von Benedikt Kaiser
Kaiserin Elisabeth war dort, Kaiser Wilhelm II. auch – sie verweilten auf Kururlaub in den Kleinen Karpaten in der westlichen Slowakei, konkreter: in Pistyan bzw. Pistany (slowakisch: Piešťany), nördlich von Tyrnau (Trnava). Da der Ort vor dem Ersten Weltkrieg als exzellentes Rheumaheilbad galt, kann das kaum verwundern. Überraschender ist ein anderer Besucher, der zwischen 1974 und 1986 jedes Jahr im Mai für mindestens vier Wochen im slowakischen Schwefelbad auftauchte: Erwin Strittmatter (1912–1994). Aufmerksame ECKART-Leser erinnern sich an diesen „märkischen Tolstoi“ aus Kaisers Zone im Januar 2024. Für den Niederlausitzer Volksschriftsteller und DDR-Erfolgsautor war die Kleinstadt ein zentraler Sehnsuchts-, Erholungs- und Schaffensort, der Strittmatter erst 1986 verloren ging, als seine Frau Eva, ebenfalls eine populäre Autorin, ihren Text Mai in Piešťany veröffentlichte, auf den das Kurklinikpersonal verärgert reagiert haben soll.
Vorher sammelte der Hamsun- und Jünger-Kenner – eine untypische Vorliebe für einen Nationalpreisträger in Honecker-Zeiten – dort jene Kraft, die er u.a. für den Abschluß seiner Wundertäter-Reihe (1980) und die legendäre, längst auch verfilmte Laden-Trilogie (veröffentlicht 1983–1992) benötigte. Immer, wenn er aus Pistany heimkehrte, vermißte er die „schönen, ruhigen Tage“. Eben jene Karpatentage gelten als die schöpferischsten im Lebenswerk Strittmatters. Die Kosten für die Kuren trug Strittmatter dabei selbst, damit er Arbeits- und Erholungszeit frei einteilen konnte und niemandem Rechenschaft abzulegen hatte. In seine Tagebücher trug er ein, die Werbemaßnahmen führender SED-Kreise, die um seine Vorliebe für Pistany wußten, hätten ihn abgestoßen: „Ich bezahl dir die Kur. Ich verschaff dir zusätzliche Devisen für die Slowakei. – Ekelhaft das alles!“
Strittmatter, der über den Antistalinismus zum Antikommunismus fand – ohne je seine sozialorientierte und volksverbundene Leitlinie aufzugeben –, studierte dort auch oppositionelle Literatur wie Der erste Kreis der Hölle des sowjetischen Dissidenten Alexander Solschenizyn. Die Lektüre bestärkte Strittmatter in seiner kommunismuskritischen Haltung, die von seiner nicht minder kapitalismuskritischen Einstellung eher ergänzt als konterkariert wurde: Auf das Werben beider Seiten reagierte er kalt. Doch im Zeitalter der Extreme gab es wenige Schlupfwinkel – ein temporäres Refugium fand Erwin Strittmatter aber immerhin am Fuße der Kleinen Karpaten.
Benedikt Kaiser
Über den Autor:
Benedikt Kaiser, Jg. 1987, studierte an der Technischen Universität Chemnitz im Hauptfach Politikwissenschaft. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lektor und Publizist. Kaiser schreibt u.a. für Sezession (BRD), Kommentár (Ungarn) und Tekos (Belgien); für éléments und Nouvelle École (Frankreich) ist er deutscher Korrespondent.