von Michael Demanega
Welthandel und Geopolitik können letztlich nur betrieben werden, wenn der Raum überwunden wird. Je schneller und effizienter es möglich ist, einen gegebenen Raum zu überwinden, der im Falle mächtiger Gebirgszüge erhebliche Widerstände bietet, um infolgedessen Waren, dann aber auch Menschen und letztlich Truppen bewegen zu können, umso aussichtsreicher ist es für die Prosperität eines Landes.
Die Geschichte der Macht Großbritanniens beginnt mit der Beherrschung der Weltmeere und der Etablierung einer britischen Infrastruktur in den beherrschten Kolonien. Diese Infrastruktur umfaßt im britischen Falle Handelsgesellschaften und Banken mit der Intention, den Welthandel zu bestimmen und zu diktieren. Der wirtschaftliche und politische Aufschwung der Vereinigten Staaten von Amerika beginnt ebenso aus einer äußerst günstigen verkehrspolitischen Lage heraus, die Zugang zu Atlantik und Pazifik bietet, vor allem aber auch im Inneren über Verkehrsnetze, Flüsse und über die Eisenbahn verfügte, die die Integration des Landes ermöglichte.
Infrastruktur hat immer einen exklusiven Kern und materialisiert einen Machtanspruch über ein Territorium.
Durch bauliche Infrastruktur wird Macht greifbar und materiell erfaßbar. Wer es schafft, andere in die eigene Infrastruktur zu drängen, gewinnt Macht. Infrastruktur ist teuer und in ihrer Planung und im Bau aufwändig, sodaß es sich im Falle baulicher Infrastruktur kaum bezahlt macht, eine konkurrierende zu schaffen. Es existiert so etwas wie eine Pfadabhängigkeit: Ein gewählter Pfad mit einer festgelegten Trasse schafft aufgrund der extremen Ressourcen, die dafür notwendig sind, mit zunehmendem Projektfortschritt einen so genannten „Point of no return“, ab dem ein Resignieren teurer ist als ein Weiterbauen. Nach Dirk van Laack erfüllt Infrastruktur drei Ebenen der Machtausübung: erstens die menschliche Bemächtigung der Natur, zweitens das Herstellen von Medien, die Einfluß und Herrschaft im Raum steuern, und drittens Symbole des Vertrauens in eine prosperierende Zukunft.
In diesen Kontext von Machtanspruch und Infrastruktur ist die deutsche Kolonialpolitik einzuordnen, die bekanntlich sehr spät beginnt, indem 1884 das erste „deutsche Schutzgebiet“ in Besitz genommen wurde. Wenn sich Ende des 19. Jh. im wilhelminischen Deutschland das Vorhaben ergibt, den Orient zu kontrollieren, dürften wohl eher wirtschaftliche Interessen Deutschlands den Bau der sogenannten Bagdadbahn vorangetrieben haben.
Berlin–Istanbul–Indien
Während das europäische Bahnnetz gegen Ende des 19. Jh. nämlich bereits weit ausgebaut war, fehlte es an einer Verbindung zum Osmanischen Reich, welche insbesondere den wirtschaftlichen Austausch anregen sollte, indem Persien und Vorderindien angeschlossen würden. Neben den wirtschaftlichen Ansprüchen standen natürlich auch politische Interessen im Mittelpunkt, zu einer Zeit, als alle europäischen Nationen nach weltpolitischem Einfluß strebten. Insgesamt sollte die Bagdadbahn eine Strecke von 1.600 Kilometern umfassen und sich als ein wirtschaftlich, politisch und baulich äußerst komplexes Projekt erweisen.
Das Osmanische Reich durchlebte Ende des 19. Jh. eine dynamische Zeit mit Reformen und einer neuen Verfassung, sah sich aber gegenüber den europäischen Mächten im Hintertreffen und strebte nach wirtschaftlichem Aufschwung, zu dem eine Eisenbahn von Istanbul zum Persischen Golf stark beitragen sollte. Mit dieser Eisenbahn wurden aus türkischer Sicht natürlich auch politische Herrschaft sowie die Möglichkeit zur raschen Truppenverlegung beabsichtigt.
Der deutsche Eisenbahningenieur Wilhelm Pressel aus Stuttgart war im wesentlichen für die Schweizerische Zentralbahn tätig gewesen, arbeitete ab 1862 für die österreichische Südbahngesellschaft und vollendete die Brennerbahn zwischen Innsbruck und Bozen. Ab 1869 war Pressel für die private Orientbahn tätig. In diesem Zusammenhang muß man wissen, daß die Geschichte der Eisenbahn durch Phasen privater Initiativen gekennzeichnet war. Bereits 1872 wurde Pressel durch Sultan Abdülaziz zum Direktor der osmanischen Eisenbahn ernannt und plante in diesem Sinne das anatolische Eisenbahnnetz. Der Sohn Wilhelm Pressels, der Tunnelbauingenieur Konrad Viktor Pressel, der in Graz, Wien und München studierte, war Mitglied der Wiener akad. Burschenschaft Silesia.
„Eroberung“ durch die „Waffe der Technologie“
Das Bestreben der osmanischen Regierung, unter Sultan Abdülhamid II. einen wirtschaftlichen Aufschwung zu bewirken, war eng an Eisenbahnprojekte geknüpft. Die Abhängigkeit des Osmanischen Reiches von französischen Banken war recht stark, die britischen Interessen an der Region waren zwar ausgeprägt, allerdings war den Briten das Risiko zu hoch. Großbritannien war in allerlei anderweitige Projekte involviert, und aus osmanischer Sicht war der politische Hegemonialanspruch Großbritanniens ein Gegenargument. Demgegenüber waren die deutschen Interessen mehr wirtschaftlicher als politischer Natur. Die Bauvorhaben sollten der deutschen Industrie nützen. Zeitgenössische Beurteilungen ordnen die Bagdadbahn eher als deutschen Versuch ein, die politische Vormachtstellung Großbritanniens zu beenden, die auf einen weltumspannenden Imperialismus ausgelegt war. Die britischen Geheimdienste werteten das deutsche Wirken im Orient als „Eroberung“ durch die „Waffe der Technologie“. Insgesamt kontrastierte die Bagdadbahn die politische und wirtschaftliche Rolle der Seehandelsmacht Großbritannien.
Auf politischer Ebene war es die türkische Regierung, die unter Sultan Abdülhamid II. 1888 die Anatolische Eisenbahn und 1903 die Bagdadbahn konzessionierte, um eine Verbindung über Bagdad zum Persischen Golf zu schaffen. Dadurch ergaben sich die türkisch-deutschen Beziehungen. Die Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft wurde zu 40 Prozent durch die Deutsche Bank übernommen, die sich Ölressourcen entlang der Strecke sicherte. Der Bau der Bagdadbahn selbst war im wahrsten Sinne des Wortes eine Pionierarbeit in weitgehend unerforschtem Land, das weitreichende geographische und geologische Fragen aufwarf, indem Gebirgszüge und Täler gesprengt bzw. durchquert werden mußten. Insbesondere die Philipp Holzmann AG befaßte sich ab dem Baubeginn im Jahre 1903 mit dem Bau. Federführend für diese tätig war der deutsche Eisenbahningenieur Heinrich August Meißner.
Bedingt durch die jungtürkische Revolution 1908, die wesentlich deutsch beeinflußt wurde, sowie durch den sich abzeichnenden Ersten Weltkrieg wurde der Eisenbahnbau beeinträchtigt. Die Bagdadbahn wurde in Teilen von den Alliierten beschlagnahmt. Nach dem Ersten Weltkrieg war die nationale Widerstandsbewegung um Mustafa Kemal (Atatürk) damit beschäftigt, die Besatzungsmächte des Ersten Weltkrieges aus der Türkei zu vertreiben und ein türkisches Nationalbewußtsein sowie einen modernen türkischen Staat zu schaffen. In diesem neuen türkischen Republikanismus spielte die Modernisierung des Landes eine essentielle Rolle, wozu auch der Weiterbau an der Bagdadbahn gehörte. Die Bahnstrecke wurde teilweise wieder in Betrieb genommen. Wiederum war Heinrich August Meißner am Bau der Bagdadbahn beteiligt, die teilweise zerstört worden war. Fertiggestellt wurde die Bahnstrecke nach Bagdad erst im Jahre 1940, also im Zweiten Weltkrieg, was Heinrich August Meißner nicht mehr erlebte.
Heute existiert die Bagdadbahn nur noch teilweise. Die Bahnlinie bleibt jedoch ein historisches Symbol für die Ambitionen und die Komplexität der geopolitischen Beziehungen im Nahen Osten. In einer Zeit, in der unsere Welt heute globalisierter und politisch multipolarer ist und es auch und vor allem darauf ankommt, weltpolitisch weitsichtig zu agieren, geraten Projekte wie die Bagdadbahn wieder in den Fokus.
Literatur:
Dirk van Laak: Imperiale Infrastruktur: Deutsche Planungen für die Erschließung Afrikas 1880–1960, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2004
Dirk van Laak: Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, C.H. Beck, München 2005
Mehmet Yilmazata: Die Bagdadbahn – Schienen zur Weltmacht, Tectum, Marburg 2012