von Mario Kandil
Kalendarium Kandili (29)
Bei einem „Bürgerschreck“ denken wir in aller Regel weniger an einen Komponisten von Orchestermusik, sondern eher an einen „Revoluzzer“, der durch sein Äußeres und sein Auftreten die braven Bürgersleute in helle Aufregung versetzt. Doch auch der deutsche Komponist Paul Hindemith, der vor 60 Jahren am 28. Dezember 1963 verstarb, hatte einen solchen Ruf.
Am 16. November 1895 in Hanau als erstes von drei Kindern in einer aus Schlesien stammenden Arbeiterfamilie geboren, empfing Paul Hindemith – wie seine Schwester und sein Bruder – schon in der Kindheit eine intensive Musikausbildung. Bereits mit 20 Jahren wurde er Konzertmeister an der Frankfurter Oper, gründete 1922 das „Amar-Quartett“, das eines der führenden Ensembles der „Neuen Musik“ war, und wurde 1927 als Kompositionslehrer an die Berliner Hochschule für Musik berufen.
Seit der NS-Machtübernahme sah sich Hindemith – der übrigens in seinem Bruder Rudolf einen musikalischen Rivalen hatte – in seiner Arbeit behindert, und seine Werke durften ab 1936 in Deutschland nicht mehr aufgeführt werden. Schließlich emigrierte er nach Aufenthalten in der Schweiz und der Türkei 1940 in die USA. Dort trat er noch im selben Jahr eine Stelle als Professor an der University of Yale an, die er bis 1953 innehatte, aber 1952/1953 mit einer Berufung an die Universität Zürich verknüpfte. Wegen der dort eigens für ihn geschaffenen Professur für Musiktheorie, Komposition und Musikpädagogik verließ er später Yale und ließ sich endgültig am Genfer See nieder. Die Entzündung seiner Bauchspeicheldrüse setzte am 28. Dezember 1963 in Frankfurt am Main dem Leben Paul Hindemiths ein Ende.
Bereits in der frühen Periode seines Schaffens verschreckte der Meister das „klassische“ Konzertpublikum, indem er dieses mit provozierend neuartigen Klängen konfrontierte – so integrierte er u. a. Jazz- Elemente. Daraufhin wurde er wie eingangs erwähnt zum „Bürgerschreck“ erklärt. Dies störte den Universalmusiker jedoch nicht, der mit seinem System „freier Tonalität“ für „Gebrauchsmusik“ eintrat und es dazu als Pflicht eines Komponisten ansah, sich fernab von Kunst im Elfenbeinturm auch mit gesellschaftlichen Herausforderungen zu befassen. Für diesen überaus modern denkenden Mann war es undenkbar, zum reinen Selbstzweck zu komponieren. Auch auf diese Weise distanzierte er sich vom romantischen Ideal eines Künstlers, der alles ausschließlich seiner genialen Inspiration verdankte.
Über den Autor:
Dr. phil. Mario Kandil M.A., geb. 1965, studierte in Aachen Mittlere und Neuere Geschichte, Alte Geschichte und Politische Wissenschaft und promovierte in Hagen. Nach langjähriger Tätigkeit im universitären Bereich und in der Erwachsenenbildung heute freier Historiker und Publizist. Forschungsschwerpunkte: Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons I. sowie der Nationalstaaten, Weltkriege und Kalter Krieg.