Ostseegedanken

von Benedikt Kaiser

Kaisers Zone (34)

Als ich im Herbst 2023 zu einem Vortrag auf Rügen eingeladen wurde, schrieb mir ein befreundeter Künstler, ich solle schon am Vortag anreisen; er müsse mir Faszinierendes zeigen. Gesagt, getan, aber zugegeben: Als ich nach Vorpommern reiste, wußte ich lediglich, daß Rügen die größte und bevölkerungsreichste Insel Gesamtdeutschlands ist. Auch von den berühmten Kreidefelsen und dem Nationalpark Jasmund, einem „Weltnaturerbe“, hatte ich Kenntnis, ferner von populären Ostseebädern wie Saßnitz und Binz. Aber schon bei Altefähr und Putbus mußte ich passen. Dabei rechtfertigt die 5.000-Einwohner-Gemeinde Putbus allein einen Tag Aufenthalt: Schloßrudimente und Park, historische Gebäude und Schwanenteich, weißgetünchte Häuserfassaden und das Denkmal zu Ehren der Gefallenen in den „Preußischen Kriegen“ (1864, 1866, 1870/71) machen die 200 Jahre alte klassizistische Planstadt zu einem Erlebnis fern der feinsandigen Strände und ihren hochpreisigen Promenaden.

Den Höhepunkt für mich stellte aber ein Buchgeschenk dar, das mir besagter Freund in die Hand drückte: Es waren die Ostseetagebücher des zu Unrecht vergessenen mährisch-schlesischen Schriftstellers Hanns Cibulka (1920–2004), die ich sofort verschlang. Erst sie ermöglichten mir einen emotionaleren Zugang zu Rügen, der mir bis dato als „klassischem Touristen“ versperrt geblieben war. Obschon 1991 publiziert, stammten die Aufzeichnungen aus Rügen und der westlichen Nachbarinsel Hiddensee von 1970-1985. Die Ostseelandschaft des Inselduos wird zur Bühne für ein Nachdenken über die Menschen und ihr Dasein im allgemeinen und im Rahmen der DDR-Realitäten im besonderen. Wie kaum ein anderer Schriftsteller nahm Cibulka angesichts der bedrohten Schönheit der Inseln auch die grassierende Umweltzerstörung in den Blick. „Dynamik und Expansion“, so mahnte er, würden zum Verhängnis, „wenn sich der Mensch nicht selbst Zügel anlegt“; man zerstöre sonst das zu Bewahrende. Es bedürfe eines „neuen Anfangs“, der Mensch müsse verantwortlicher leben, im Einklang mit der ihm anvertrauten Natur.

Als ich die Lektüre beendete, mußte ich an ein Plakat denken, daß wir auf einem Spaziergang gesehen hatten: Dort wurde zu Protesten gegen ein neues Flüssiggasterminal aufgerufen, weil es das Natursystem Rügens bedrohe. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sieht das XXL-Projekt dagegen als zwingenden Bestandteil seiner „Energiewende“. Fürwahr: Cibulkas Plädoyer für ein Maßhalten ist nicht aus der Zeit gefallen.

Benedikt Kaiser

Über den Autor:
Benedikt Kaiser, Jg. 1987, studierte an der Technischen Universität Chemnitz im Hauptfach Politikwissenschaft. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lektor und Publizist. Kaiser schreibt u.a. für Sezession (BRD), Kommentár (Ungarn) und Tekos (Belgien); für éléments und Nouvelle École (Frankreich) ist er deutscher Korrespondent.

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