von Erik Lehnert
Nicht selten findet, wenn von der Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Ostpreußen die Rede ist, das Wort „Exodus“ Verwendung. Es bezieht sich auf den im Alten Testament geschilderten Auszug der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei und gibt den Ereignissen eine religiöse Komponente. Anders als die Israeliten mußten die Ostpreußen ihre Heimat verlassen, in der sie seit Jahrhunderten fernab des Zentrums des Reiches gelebt hatten.
Die spätere Herausgeberin der Zeit, Marion Gräfin Dönhoff, die einen Flüchtlingstreck anführte, schildert die Lage dementsprechend:
Am 21. Januar hatten wir uns zusammen auf den Weg gemacht, spät am Abend durch einen von den Ereignissen schon fast überholten Räumungsbefehl alarmiert und von dem immer näher rückenden Lärm des Krieges zur Eile getrieben. In nächtlicher Dunkelheit die Wagen packen, die Scheunentore öffnen, das Vieh losbinden – das alles geschah wie im Traum und war das Werk weniger Stunden. Und dann begann der große Auszug aus dem gelobten Land der Heimat, nicht wie zu Abrahams Zeiten mit der Verheißung „in ein Land, das ich dir zeigen werde“, sondern ohne Ziel und ohne Führung hinaus in die Nacht.
Damit war das letzte Kapitel der Geschichte Ostpreußens eingeläutet, die Flucht Richtung Westen. Die Tragik des Ereignisses liegt nicht nur in der Tatsache der Vertreibung und der zahllosen Opfer, die sie forderte. Sie liegt auch darin, daß Ostpreußen etwas mehr als 200 Jahre früher tatsächlich das gelobte Land für diejenigen gewesen war, die ihrem Glauben nicht untreu werden wollten. Das betraf nicht nur holländische Mennoniten oder Schweizer Calvinisten, sondern vor allem Salzburger Protestanten, deren Aufnahme zu den bekanntesten Maßnahmen der „Repeuplierung“ in Ostpreußen vor dem Hintergrund der Glaubensspaltung in Europa gehört.
Salzburger Protestanten erst unterdrückt, dann des Landes verwiesen
Die Lehre Martin Luthers verbreitete sich nicht nur im Norden schnell – u.a. in Ostpreußen, das seit 1525 Teil des ersten protestantischen Herzogtums Europas war – sondern auch in Süddeutschland. Besonders früh geschah dies im Erzstift Salzburg, wo bereits 1520 Studenten Luthers Lehre verbreiteten. Der größte Teil der Bewohner wurde evangelisch und hielt an diesem Glauben fest, obwohl diese starken Beschränkungen unterworfen waren. Protestantische Schriften wurden verboten, evangelische Geistliche durften sich nicht niederlassen, eigene Kirchen nicht errichtet werden. Der Glaube erwies sich jedoch als so zäh, daß man Ende des 17. Jh. dazu überging, die ersten Protestanten des Landes zu verweisen.
Nachdem Leopold Anton von Firmian 1727 zum Fürsterzbischof gewählt worden war, spitzte sich die Lage weiter zu. Als die Mission durch Jesuiten nichts fruchtete, erließ er ein auf den 31. Oktober 1731 rückdatiertes Emigrantenpatent, das die etappenweise Vertreibung der Evangelischen verfügte. Er konnte sich dabei auf ein Verzeichnis von ca. 20.000 Namen stützen, das diese selbst angefertigt hatten, um sich beim Reichstag in Regensburg über die Verfolgung zu beschweren, da sie den Festlegungen des Westfälischen Friedens widersprach. Vom Reichstag kam keine Hilfe, die Ausweisung wurde militärisch durchgesetzt: Besitzlose wurden ohne Vorwarnung außer Landes gebracht, dem Rest knappe Fristen eingeräumt, um ihren Besitz zu veräußern – was oft nicht gelang.
„Bei mir sollt ihr es gut haben, Kinder.“
Es wurde von den Salzburgern sicherlich als Gottes Fügung aufgefaßt, daß Friedrich Wilhelm I. von Preußen, der Soldatenkönig, gerade dabei war, das von der Pest verheerte und in vielen Gegenden nahezu entvölkerte Ostpreußen neu zu besiedeln. Vor allem die Gegend östlich von Gumbinnen nahe der litauischen Grenze brauchte Menschen. Er erließ daher am 2. Februar 1732 einen Aufruf, daß er „diese vertriebenen Glaubensgenossen in seine Staaten aufnehmen“ wolle. Die meisten Salzburger folgten diesem Ruf und wurden ab Nürnberg von preußischen Beamten auf verschiedenen Routen nach Berlin geleitet. Von über 20.000 registrierten Flüchtlingen kamen etwa 15.000 in Berlin bzw. Brandenburg an.
Am 26. April 1732 wurde der erste Zug vom König mit den Worten begrüßt: „Bei mir sollt ihr es gut haben, Kinder.“ Es folgten in kurzen Abständen weitere 32 Transporte, von denen lediglich einer, der ausschließlich aus Handwerkern bestand, in Berlin blieb. Die anderen kamen nach Ostpreußen, zum Teil mit Pferd und Wagen, zum Teil mit dem Schiff von Stettin nach Königsberg. Die Schiffsüberfahrt dauerte etwa einen Monat, der Landweg nahm fast drei Monate in Anspruch. 15.508 Personen erreichten Ostpreußen, das erste Schiff legte am 28. Mai 1732 an, der erste Landtransport erreichte am 6. August 1732 Nordostpreußen. Etwa 12.000 Salzburger kamen in die Gegend von Gumbinnen, 2.000 wurden im westlichen Teil Ostpreußens angesiedelt.
Schwierige Anfänge
Die Hofstellen waren teilweise schon besetzt, sodaß die Salzburger monatelang untätig bleiben mußten. Nicht wenige, vor allem Kinder, überlebten den ersten Winter nicht. Aber bald waren die Salzburger kaum noch von den Ostpreußen zu unterscheiden. Sie hatten ihren Dialekt abgelegt und zeichneten sich vor allem durch Fleiß und Glaubenseifer aus, sodaß Ernst Moritz Arndt hundert Jahre später schrieb: „Es ist ein prächtiges deutsches Volk, die Preußen, besonders die Ostpreußen, und was dort von Salzburgern stammt; sie haben Feuer und Nachhaltigkeit.“
Die Nachfahren der Salzburger, darunter die berühmte Dichterin Agnes Miegel, gehörten mit zu denjenigen, die 1945 vor den Sowjets fliehen mußten. Und wie 1732 war man auf die Pferde angewiesen:
Hinter uns brandet das Meer der Kriegswellen, und vor uns reiht sich Wagen an Wagen in endloser Folge – es gibt nur noch den Rhythmus des Pferdeschrittes, so wie er unbeirrt durch die Jahrtausende gegangen ist. Ist es der Auszug der Kinder Israels, ist es ein Stück Völkerwanderung, oder ist es ein lebendiger Fluß, der gen Westen strömt, gewaltig anwachsend – „Bruder, nimm die Brüder mit“? (Marion Gräfin Dönhoff)
Das Massaker von Nemmersdorf als Menetekel
Ostpreußens letzte Stunde begann im Sommer 1944 mit der sowjetischen Großoffensive, die nicht nur zur Evakuierung des Memellandes führte, sondern die Sowjets im Oktober erstmals deutsches Gebiet erreichen ließ. Dieser Vorstoß ist mit dem Namen Nemmersdorf verbunden, einem Dorf, in dem die Sowjets ein Massaker an der Zivilbevölkerung verübten und deutlich machten, was den Deutschen bevorstünde. Die Sowjets konnten noch einmal zurückgeschlagen werden, bevor sie im Januar 1945 zum Sturm auf Ostpreußen ansetzten und es innerhalb von zwei Wochen einkesselten.
Weil jede Vorbereitung lange verboten worden war, vollzog sich die Flucht chaotisch und unter hohen Verlusten. Nicht nur, daß die Flüchtlingstrecks von Schlachtfliegern und Panzern zusammengeschossen wurden, es war bitterkalt und die Ernährungslage katastrophal. Viele wurden von sowjetischen Truppen überrollt, kehrten um und wurden dann massakriert oder nach Rußland verschleppt. Ein besonders tragisches Schicksal hatten die sogenannten Wolfskinder zu erleiden, die ohne Eltern durch das Land irrten und, wenn sie Glück hatten, bei Litauern unterkamen.
Angesichts der Orgie von Gewalt und Zerstörung fragte sich der Schriftsteller Lew Kopelew, der als Offizier den Einmarsch der Sowjets miterlebte: „Warum entpuppten sich viele unserer Soldaten als gemeine Banditen, die rudelweise Frauen und Mädchen vergewaltigten – am Straßenrand, im Schnee, in Hauseingängen; die Unbewaffnete totschlugen, alles, was sie schleppen konnten, kaputtmachten, verhunzten, verbrannten?“ Besonders die Eroberung Königsbergs Anfang April 1945 blieb in dieser Hinsicht beispiellos. Von der verbliebenen Bevölkerung Königsbergs starben bis 1948 mehr als die Hälfte der Menschen durch Mord, Totschlag, Hunger und Seuchen.

Wikimedia Commons, Kosov vladimir 09071967
Als letzter Ausweg blieb vielen nur der Weg über das Meer.
Die deutsche Kriegsmarine startete von Pillau aus eine großangelegte Evakuierungsaktion, die über Danzig weiter in den Westen führte. Etwa 900.000 Flüchtlinge und 350.000 Verwundete konnten so gerettet werden. Überschattet wurde die Evakuierung von den größten Katastrophen der Seefahrtgeschichte überhaupt, der Versenkung der Steuben, der Wilhelm Gustloff und der Goya durch sowjetische U-Boote, was insgesamt mehr als 20.000 Menschen das Leben kostete. Sie waren aber nur ein Bruchteil der über eine halbe Million Ostpreußen, die Krieg und Vertreibung nicht überlebten. Ostpreußen erlitt damit von allen deutschen Ländern die größten Menschenverluste. Für Überlebende, die sich in den Westen retten konnten, wurde Ostpreußen wieder das gelobte Land, das es einst für die Salzburger Glaubensflüchtlinge war – diesmal in der Erinnerung.