von Thomas Grischany
Die Idee eines „österreichischen Menschen“ erwuchs aus den unklaren nationalen Verhältnissen im Mitteleuropa des 19. Jh., in jenem Zeitalter des Nationalismus’, in dem die multinationale Habsburgermonarchie – seit 1804 „Kaisertum Österreich“ – wie ein Fossil wirkte. Die zentrale Herausforderung war daher, wie man eine gesunde Grundlage für den Zusammenhalt der Monarchievölker schaffen könne, ohne die über tausendjährige deutsche Identität und Führungsrolle zu opfern.
Dieses Spannungsfeld offenbarte sich schon im Widerstand gegen Napoleon: Führende österreichische Staatslenker wie Friedrich von Gentz, Friedrich Schlegel und Joseph Hormayr wollten im Fünften Koalitionskrieg von 1809 im Grunde mehrere konzertierte Volkserhebungen, also einen Krieg, an dem sich alle Völker der Monarchie beteiligten, weshalb neben dem „Totalpatriotismus“ für den Kaiserstaat auch an den „Provinzialpatriotismus“, d.h. das Volkstumsbewußtsein der einzelnen Völker, appelliert wurde. „Nous nous sommes constitué nation“ sollte dazu, etwas vorschnell, der damalige Außenminister Johann Philipp von Stadion meinen.
Österreich 1809: „Unsere Sache ist die Sache Deutschlands.“
Für die deutschen Österreicher bedeutete das laut dem Kriegsmanifest von 1809, daß man nicht nur um die „Selbständigkeit der österreichischen Monarchie“ kämpfte, sondern auch, um „Deutschland die Unabhängigkeit und die Nationalehre wieder zu verschaffen“, denn „Unsere Sache ist die Sache Deutschlands“. Das war bereits zu viel an Sprengkraft, da für die österreichische Führung um den neuen Außenminister Klemens von Metternich (seit 1809; Staatskanzler ab 1821) „deutsch“ nicht die gleiche Bedeutung hatte wie für „Teutomanen“ vom Schlage Ernst Moritz Arndts, Johann Gottlieb Fichtes und Ludwig Jahns, weshalb schon drei Jahre später der geplante Aufstand des „Alpenbundes“ untersagt wurde.
Auch Grillparzer wollte über Königgrätz hinaus an seinem Deutschtum festhalten.
Zusammenhalt ließ sich somit höchstens auf der Grundlage von gesamtstaatlichem Patriotismus und Loyalität zur Dynastie propagieren. Doch Versuche, ein die einzelnen Nationalitäten transzendierendes Gesamtwesen der Vielvölkermonarchie zu entwerfen – wie von Karl Möring, der gerne die Entwicklung der Monarchie zu einem von der deutsch-slawischen Bevölkerung (als ein „österreichisches“ Volk) akzeptierten Vaterland gesehen hätte – waren rar. Daher beschränkten sich Definitionen des „Österreichers“ meist darauf, die Eigenart des Deutsch-Österreichers im Gesamtgefüge der deutschen Stämme – also zusätzlich zu jenen dem bayerisch-österreichischen Stamm im allgemeinen zugeschriebenen Charakterzügen – mit jener der anderen Deutschen zu kontrastieren. So läßt beispielsweise Franz Grillparzer in König Ottokars Glück und Ende (1825) Ottokar von Hornek sagen, daß andere Deutsche belesener – ein Hinweis auf die Bildungsschere zwischen Nord und Süd? – und weniger zurückhaltend – ein Seitenhieb auf die forschen Preußen? – sein mögen, der Österreicher aber die Dinge klarer sehe („der offne, richt’ge Sinn“) sowie über ein besseres Gespür („Und mache gut, was andere verdarben!“) und heiteres Gemüt („trägt offen seine Freuden … und was er tut, ist frohen Muts getan“) verfüge. Doch auch Grillparzer wollte über die Katastrophe von Königgrätz 1866 hinaus an seinem Deutschtum festhalten: „Als Deutscher ward ich geboren, bin ich noch einer? Nur was ich Deutsches geschrieben, nimmt mir keiner.“
Österreich und Preußen wie Athen und Sparta
Nach der deutschen Reichsgründung von 1871 nahmen die innerdeutschen Differenzierungen Fahrt auf. Deutschland wurde zunehmend mit Preußen gleichgesetzt, und die neue österreichische Situation, ohne den Rückhalt in einem größeren deutschen Verbund, verlangte ebenfalls nach einer Neubewertung der eigenen Identität. Die Österreicher sahen sich selbst immer mehr – und wurden auch von außen so wahrgenommen – als Bonvivants mit einem Talent für Kunst und Unterhaltung, ein „Reich von Künstlern und Kellnern“, wie Arthur Schnitzler 1919 rückblickend auf die Monarchie formulierte. Dieses Bild vom österreichischen Menschen ist deutlich durch Abgrenzung vom soldatischen Preußen – nicht unähnlich dem Gegensatz zwischen Athen und Sparta – und einer gewissen Wienlastigkeit bestimmt.
Das angebliche künstlerische, lebenslustige Naturell wurde zunehmend mit dem Barock identifiziert, wie es als einer der ersten der Kunsthistoriker Albert Ilg (Kunstgeschichtliche Charakterbilder aus Österreich-Ungarn, 1893) vornahm, für den der Barock dem „warmen, lebendigen, heiteren und phantasievollen Wesen des Österreichers“ entsprach.
Erstaunliche Einigkeit über das Wesen des Österreichers erreichten kurz vor Ende der Monarchie der national-liberale Hermann Bahr (Austriaca, 1911) und der konservativ-katholische Richard Kralik (Das unbekannte Österreich, 1917). Zwar sei es mit der deutschen Vorherrschaft vorbei, doch wäre ein unvollkommenes Deutschland einem rein slawischen und daher vermutlich zwangsläufig russisch beeinflußten Reich vorzuziehen. Wichtiger, als bloß ein Achtel innerhalb des Deutschen Reiches auszumachen, sei es nämlich, deutsche Kulturarbeit unter den Völkern der Monarchie zu betreiben und ausgleichend zu wirken, was laut Bahr nur durch Vorbildwirkung und gesunde Rivalität erreicht werden könne: Die Österreicher müßten daher ihr Deutschtum pflegen, um besser als alle anderen Deutsche zu sein. Laut Kralik hätten andere Völker nur in Österreich ihre Existenz bewahren und kulturell aufblühen können, da Österreich immer maßhaltend, gelassen und duldend gewesen sei und nicht angloamerikanisch ausbeutend oder wie Rußland alle anderen slawischen Kulturen ausrottend. Auch die Waffenbrüderschaft mit dem verpreußten Deutschland im Weltkrieg hinterließ ihre Spuren, etwa in Hugo von Hofmannsthals populärem Schema (1917), in dem er österreichische Eigenschaften ironisch und selbstkritisch überzogen als den preußischen entgegengesetzt, aber einander ideal komplimentierend gegenüberstellte.
Nach dem Ersten Weltkrieg waren bis auf Legitimisten und Kommunisten theoretisch alle mehr oder weniger für den Anschluß an das Deutsche Reich. Jenen, die sich noch immer nicht entscheiden konnten, warf Robert Musil in Buridans Österreicher (1919) vor, daß sie sich nicht von der Schimäre einer eigenständigen österreichischen Kultur trennen wollen würden, und er spottete über angebliche Eigenschaften wie musisches Talent, die Gabe zum Mitteln („Wir sind so begabt, Orient und Okzident vermählen sich in uns“) oder barockes Wesen als Stereotypien des unentschlossenen und zu spirituell gearteten Österreichers.
Österreichische Sozialisten für die „nationale Gemeinschaft des deutschen Volkes“.
Ganz unzweideutig äußerte sich die Arbeiter-Zeitung zu diesem Thema: „Wir österreichischen Sozialisten haben nichts zu schaffen mit dem Spuk des aus Katholizismus, Habsburgertradition und feudaler Barockkultur zusammengebrauten österreichischen Menschen, den klerikal-schwarzgelber Separatismus der nationalen Gemeinschaft des deutschen Volkes entgegenstellt.“
Doch auch die Mehrheit der Christlichsozialen stellte die Verbundenheit mit den anderen Deutschen grundsätzlich nicht in Frage. Zwar forderte der Priester und Bundeskanzler Ignaz Seipel 1923 in einem Artikel dazu auf, „österreichische Menschen“ zu werden, aber er bezog sich damit auf eine besondere Aufgabe, die er schon 1916 in Nation und Staat entwickelt hatte: Da Kirche, Staat und Nation (= Volk) von Gott geschaffen worden seien, könne es keinen Widerspruch zwischen ihnen geben. Die Liebe zur Nation sei legitim und wünschenswert, und nur die radikale Form des Nationalismus’ sowie der sozialistische Internationalismus abzulehnen. Während sonst in Europa entweder Staat oder Volk überbetont worden seien, habe Österreichs supranationaler Staat, d.h. Reich, mehrere Völker friedlich vereinen können. Daher sei es Aufgabe der österreichischen Deutschen, durch die Bewahrung des Reichsgedankens die Vorkämpfer der europäischen Mission der Deutschen zu bleiben. Seipel vergleicht dabei die Österreicher als auserwähltes Volk sogar mit den Israeliten. Nur wenn Österreich diese Aufgabe nicht erfüllen könne, werde mit Sicherheit der Anschluß kommen, denn das eigene „Gärtchen zu bebauen und gegen Entrée den Fremden zu zeigen“, sei keine Aufgabe für die Bewohner der Karolingischen Ostmark und Erben der Türkenbesieger; für diese „Großstaatmenschen“ wäre ein dritter Weg à la Schweiz ein Irrweg.
Katholizismus war zentral für Seipels Verständnis, der im Nationalismus eine Erfindung der häretischen tschechischen Hussiten erblickte. Gleichzeitig sah er im historischen Kampf gegen die Türken eine zeitgenössische Parallele zum Kampf gegen den Bolschewismus Tatsächlich waren Katholizismus und Supranationalismus historisch eng miteinander verknüpft. Die Habsburger hatten sich als „katholische“ Macht definiert, was der Wiener Erzbischof, Friedrich Gustav Kardinal Piffl, der von einer katholischen österreichischen „Volksseele“ sprach, in Türkenkriegen, Gegenreformation und Barock ausgedrückt sah. Piffl gehörte aber auch, gemeinsam mit Engelbert Dollfuß und Arthur von Seyß-Inquart, dem völkischen Geheimbund „Deutsche Gemeinschaft“ an.
Der aus Nassau stammende Oscar A.H. Schmitz pries in seinem Der österreichische Mensch (1924) diesen zwar als katholisch, sinnlich, aristokratisch und barock, stellte aber dessen Deutschtum nicht in Frage. Allerdings sah er den österreichischen Menschen im Gegensatz zum aggressiven, provinziellen, kulturlosen und protestantischen Preußen, und meinte, daß sein Großvater Kaiser Wilhelm II. vermutlich als „Hetman der Obotriten und Kaschuben“ verspottet hätte.
Für Wildgans ist das „besondere Menschentum“ der Österreicher nur eine Sonderform des Deutschen.
Anton Wildgans charakterisierte in seiner berühmten Rede über Österreich (1930) den „österreichischen Menschen“ wie folgt: Er sei zum „Psychologen“ geworden, weil er sich „hineindenken mußte in fremde, nationale Gefühlswelten, in fremde Volksseelen“, und dadurch „Völkerkenner, Menschenkenner, Seelenkenner“ wurde. Aufgrund seiner „Künstlernatur“ sei seine Arbeitsmethode eher die „schöpferische Improvisation“ und das „schaffende Handwerk“ als die „disziplinierte … Fabrikation“. Somit sei er, vor allem in nationaler Hinsicht, auch kein „Tat- und Herrenmensch“. Zwar sei er „tapfer, rechtschaffen und arbeitsam, aber seine Tapferkeit, so sehr sie auch immer wieder Elan bewiesen hat, erreicht ihre eigentliche sittliche Höhe erst, wenn seine leiderfahrene Philosophie in Kraft tritt: im Dulden.“ Als „Phäaken“ seien die Österreicher daher nur in dem Sinne zu betrachten, wie der „herrliche Dulder Odysseus“ auf der Phäakeninsel beim Vortrag des Kampfes um Troja zu weinen begann, daß nämlich „unser mit allen Gotteswundern der Schönheit begnadetes und von freundlichen Menschen bewohntes Land auch weiterhin ein Eiland des Gesanges“ sei und daß „von ihm die edle Heiterkeit und die starkmütige Ergriffenheit menschlicher Herzen“ ausgehe. Duldsamkeit als Tugend formulierte Wildgans ähnlich wie Kralik auch in Wo sich der ewige Schnee spiegelt im Alpensee (1929), in dem er die Österreicher als „pflichtgewillt, duldensstark, einfach und echt von Wort“ beschreibt. Aber letztlich ist dieses „besondere Menschentum“ für Wildgans nur eine Sonderform des Deutschen, so wie er auch in Das österreichische Credo (1920) das, was vom großen Österreich übriggeblieben war, als das „Herzland deutscher Väter“ bezeichnete.
Weiter ging nur der Soziologe und Politiker Ernst Karl Winter, der mit Alfred Missong, August Maria Knoll und Hans Karl Zeßner-Spitzenberg die „Österreichische Aktion“ gründete. In dem gleichnamigen Sammelband von 1927 wurde auf legitimistischer Grundlage eine eigenständige österreichische Identität formuliert, wonach die Österreicher „kein deutscher Stamm wie etwa der Sachse oder der Bayer“ seien, sondern ein eigenständiges Volk „mit dem Blute und dem Geiste der Kulturen, die hier geblüht und ihre Früchte gezeitigt haben“. Schon 1921 hatte Winter in Austria erit in orbe ultima postuliert, daß Österreich, Böhmen und Ungarn eine „dreieinige, geschichtlich-vaterländische Ganzheit“, ein „dreifaltig, dreieinig heiliges Reich“ sowie „ein Staatswesen in drei nationalen Individualitäten“ geworden seien. Österreich sei daher „das Reich der Mitte und Maße, der heiligen Symmetrie“ und die „in der Soziologie fleischgewordene, blutgewordene Katholizität.“
„Wer für Österreich ist, muß gegen Deutschland sein, denn Deutschland und der nationalsozialistische Staat sind heute identisch.“
1933 fügte er hinzu, daß die „österreichische Idee“ aus einer Zeit stamme, in der Religion und nicht Nationalismus Völker einte. Diese sei daher eine „metaphysische Realität“ und „transzendentale Struktur“, daher müsse auch die „Idee des Deutschtums“ als spirituell, apolitisch, kulturell und supranational verstanden werden, zumal die Deutschen auch über ganz Europa verstreut seien. Österreich müsse zu diesem „spirituellen Deutschland“ gehören, da es diese Idee besser als Deutschland selbst verstehe. Hier wird bereits der Gegensatz zum „politischen Deutschland“ deutlich. 1936 bekräftigte Winter sein von allem Deutschen befreites und stark politisiertes Österreich-Verständnis: „Wer für Österreich ist, muß gegen Deutschland sein, denn Deutschland und der nationalsozialistische Staat sind heute identisch.“ Österreichs Geschichte hingegen sei ein tausend Jahre langer Prozeß der Trennung von Deutschland gewesen, weshalb es ein „österreichisches Volk“ und eine „österreichische Nation“ gebe, die nicht anders als die Schweiz, Holland oder Belgien sei.
Obwohl Seipels Axiom, daß die Reichsidee besser in einem unabhängigen Österreich als in einem fehlgeleiteten Deutschland aufgehoben sei, die ideologische Basis für die Bewahrung der Eigenstaatlichkeit im Ständestaat bilden sollte, gingen dessen Führer niemals so weit wie Winter. Österreich als völlig eigenständige Nation zu begreifen, wurde vor 1945 nur von einer konservativen Minderheit wie den Männern um Winter sowie der KPÖ – z.B. Alfred Klahr im Moskauer Exil 1937 – vertreten.