„Ober Ost“ – eine Geschichte über Deutschland und das Baltikum im Ersten Weltkrieg

von Thomas Grischany

Am 1. November 1914 wurde Generaloberst Paul von Hindenburg, der große Sieger der Schlachten von Tannenberg und an den Masurischen Seen, gemeinsam mit seinem Stabschef Erich Ludendorff zum Oberbefehlshaber Ost ernannt. Die deutsche Gegenoffensive führte nicht nur zur endgültigen Befreiung Ostpreußens, Galiziens und der Bukowina, sondern im Verlaufe des Jahres 1915 auch zur Eroberung von Kongreßpolen, dem heutigen Litauen, Kurland – dem südliche Teil des heutigen Litauens – sowie einiger litauisch und weißrussisch besiedelter Bezirke, die nach 1918 allesamt Teile Polens wurden. Die westlichen Bezirke sollten auch nach 1945 polnisch bleiben, während die östlichen der Sowjetrepublik Weißrußland zugeschlagen wurden. Dieses etwas über 100.000 Quadratkilometer umfassende und vom Generalstab des Oberbefehlshabers Ost verwaltete Besatzungsgebiet konnte von der kaiserlich-deutschen Armee bis in den Sommer 1918 gehalten werden. Es war auch unter der Abkürzung „(Land) Ober Ost“ bekannt.
Im Gegensatz zur zivilen Verwaltung des k. u. k. Generalgouvernements Lublin und des deutschen Generalgouvernements Warschau handelte es sich bei dem fast nur von Militärs verwalteten Ober Ost quasi um einen Militärstaat. Bis März 2017 bestand dieser aus sechs Verwaltungsbezirken (Kurland, Kowno-Litauen, Suwalki, Wilna, Bialystok und Grodno), ab dann nur noch aus Kurland, Litauen (inklusive Kowno, Suwalki und Wilna) sowie Bialystok-Grodno.

De-facto-Militärstaat mit weitreichenden Zielen

Das Faszinierende an diesem Gebilde war, daß die Armee sich hier durchaus kreativ betätigte. Das erste große Projekt war die wirtschaftliche Ausbeutung von Ober Ost. Neben Zwangsarbeit und Requirierungen erfolgte dies insbesondere durch eine Verkehrspolitik, welche nicht nur die beim russischen Rückzug zerstörte Infrastruktur, insbesondere das Eisenbahnnetz, wieder aufbauen wollte, sondern mittels der Kontrolle der Personen- und Warenströme auch die Kontrolle des Landes an sich zu erreichen suchte.
Das zweite große Projekt bestand in einer breit angelegten Kulturpolitik, die man primär als „kulturelles Mentoring“ verstehen kann. Dazu gehörten Maßnahmen wie Regeln für praktisch jeden Lebensbereich, öffentliche Gesundheitsprogramme, die Wiederbelebung des Schulsystems – wobei nunmehr auch Deutsch unterrichtet werden sollte –, das Katalogisieren indigener kultureller Errungenschaften, lokale deutsche Zeitungen, der Bau von Theatern in den größeren Städten sowie der Einsatz von Fronttheatern und Feldbüchereien.
Das Ziel war, die Autochthonen auf das deutsche Niveau von Bildung, Sauberkeit und sozialer Disziplin zu heben, wobei es auch hier unterschwellig um Kontrolle ging. Dem lag die Vorstellung zugrunde, daß die von Armut und Einfachheit geprägten Einheimischen faul und unorganisiert seien. Auch das weite, als kalt und zu naß empfundene Land galt vielen Besatzern, deren eigenes Leben vor Ort von Langeweile, Heimweh und Trostlosigkeit bestimmt war, als schmutzig und verwahrlost.

Linke und Rechte vereint in Geringschätzung des Ostens

Diese negative Sicht des „Ostens“ war nichts Neues: Die Linke haßte Rußland für dessen reaktionäre Gesellschaftsform und Politik, während rechte Denker wie Constantin Frantz, Paul de La­garde und Friedrich Lange schon weit vor 1914 eine Expansion in den Osten auf Kosten einer vermeintlich unterlegenen Kultur empfohlen hatten. Immerhin aber bewunderten u.a. Herder, der „Sturm und Drang“, Wagner, Nietzsche, Spengler, Mann und Rilke den Osten für seine einzigartige Spiritualität. Echte Kultur jedoch schien im wesentlichen von deutschen Einwanderern getragen zu sein, wobei es sich bei den Baltendeutschen (oder Deutsch-Balten) um eine im Hochmittelalter eingewanderte Oberschicht handelte, die in den Städten die Mehrheit darstelle, von der Gesamtbevölkerung aber nicht mehr als zehn Prozent ausmachte.
Folgerichtig war ein wichtiger Aspekt des Kulturprogramms die Erfassung der ethnischen Diversität innerhalb von Ober Ost, was sich aufgrund der vielen verschiedenen Identitäten – Esten, Letten, Litauer, Juden, Weißrussen, Deutsche, Polen, um nur die wichtigsten Großgruppen zu nennen – schwierig gestaltete. Es wurden Statistiken und Karten angelegt, aber vielfach offen blieb die Frage, ob eine Gruppe ein Volk oder einen Stamm, eine Völkerschaft oder einen Volksschlag darstellte. Die Juden wurden ambivalent betrachtet. Vielen galt das Ostjudentum als das letzte authentische Judentum, weshalb ein aufgeklärter Deutscher jüdischer Herkunft wie Victor Klemperer, der vorübergehend in der Militärzensur in Kowno seinen Dienst verrichtete, nicht viel mit ihm anzufangen wußte.

Deutsche Überorganisation verhaßter als russische Knute

Es kam zu einer starken Spannung zwischen den hochgesteckten Zielen und den unzureichenden Ressourcen sowie teilweise brutalen Mitteln, die letztlich zu einem klaren Scheitern führte. Bemerkenswert dabei ist die Tendenz zur Überorganisation, die wiederum selbst für Verwirrung sorgen konnte. Gerade diese Überorganisation wirkte sich auf die Bevölkerung äußerst negativ aus, denn während die „russische Knute“ nur gelegentlich herabgesaust war, wurde die vorgebliche Gründlichkeit der deutschen Herrschaft als ständige Drangsalierung empfunden. Somit entsteht das Bild eines einzigen großen Kriegsstaates, der sich, das Land „ordnend“, ostwärts bewegte.

Durch kulturelle Tätigkeit seiner Bewohner physisch deutsch werdendes Land

Diese Vorstellung entspricht auch einigen anderen im damaligen Kaiserreich populären Ideen und Theorien. So wurde etwa Erdkunde als „deutsche“ Wissenschaft empfunden, die immer mit deutscher Identität verknüpft war und mit organischen und romantischen Vorstellungen von „Verwurzelung“ – der Verbundenheit und Harmonie zwischen Volk, Landschaft und Natur – einherging, was auch in der Wandervogelbewegung zum Ausdruck kam. Der Begründer der Geopolitik, Rudolf Kjellén, betrachtete den Staat als lebendigen Organismus, der den Gesetzen des Darwinismus’ folge. Laut dem Vater der Ethnographie, Wilhelm Heinrich Riehl, und des Geographen Friedrich Ratzels Verständnis von „deutscher Kulturlandschaft“ konnte Land durch die kulturelle Tätigkeit seiner Bewohner selbst physisch deutsch werden. Da dem Deutschen an sich nachgesagt wurde, daß er sich in der Fremde schnell entwurzle, aber in seiner neuen Heimat umso schneller Wurzeln schlage, ergab sich die Option, daß zukünftige deutsche Auswanderer entweder absorbiert werden oder durch ihre eigene Tätigkeit das Land in ihrem Sinne verändern würden.
Den anderen Völkern hingegen wurde keine legitime unabhängige Existenz zugestanden: Der Osten war der „Raum ohne Volk“ für das „Volk ohne Raum.“ Damit war bereits einiges von dem vorgedacht, was die Nationalsozialisten rund fünfundzwanzig Jahre später auf viel brutalere Weise umsetzen wollten.

Gescheiterte Pläne für deutsche Satellitenstaaten

Infolge des seinerzeitigen Scheiterns der Projekte von Ober Ost blühten zu Kriegsende Pläne, auf dem besetzten Gebiet deutsche Satellitenstaaten zu errichten. Als Partner kamen nur deutschbaltische Eliten in Frage, und der von Emigranten gegründete „Baltische Vertrauensrat“ trat für eine Verbindung der baltischen Territorien mit Deutschland unter Berufung auf die historische Herrschaft des Deutschen Ordens ein. Offen blieb dabei die Frage, ob eine Union aller Baltenvölker oder einzelne Staaten geschaffen werden sollte.
Die Machtergreifung der Bolschewiki in der Oktoberrevolution von 1917 bedeutete de facto den Sieg der Mittelmächte über Rußland. Am 3. März 1918 verzichteten die neuen Machthaber im Vertrag von Brest-Litowsk, der Estland, Livland, weitere Teile Weißrußlands und fast die gesamte Ukraine unter deutschen Einfluß brachte, auf ihre Hoheitsrechte im Baltikum. Daher wurde am 8. März 1918 das Herzogtum „Kurland und Semgallen“ – angelehnt an ein 1561-1795 existierendes Staatswesen – von einem aus Deutschbalten bestehenden Landesrat ausgerufen, der Kaiser Wilhelm II. die Krone anbot. Bereits am 11. Dezember 1917 war von der provisorischen gesetzgebenden Versammlung Litauens ein unabhängiger Staat ausgerufen worden, der im Juni 1918 die Krone dem württembergischen Herzog Wilhelm von Urach offerierte, der als Mindaugas II. regieren wollte. Am 12. April 1918 trug der unter deutschbaltischer Führung stehende „Vereinigte Landesrat von Livland, Estland, Riga und Ösel“ dem Kaiserreich zunächst eine Personalunion an, bevor in weiterer Folge ein selbständiges „Vereinigtes Baltisches Herzogtum“ unter Adolf Friedrich zu Mecklenburg errichtet werden sollte.

Die deutsche Novemberrevolution sowie der am 11. November 1918 unterzeichnete Waffenstillstand von Compiègne, der den Vertrag von Brest-Litowsk annullierte, vereitelten jedoch sämtliche Pläne des vormaligen Kaiserreiches, deutsche Prinzen auf baltischen Thronen zu installieren. Stattdessen kam es auf dem Boden des Baltikums zu einer Reihe erbitterter Kämpfe zwischen den bunten Koalitionen aus deutschen Freikorps – die sich aus im Osten verbliebenen reichsdeutschen Truppenteilen sowie Freiwilligen zusammensetzten –, national-baltischen und antibolschewistisch-russischen Kräften einerseits und den ebenfalls multinationalen bolschewistischen Armeen andererseits, die mit dem Sieg der „Roten“ endeten. Aber das ist eine andere Geschichte…

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