von Caroline Sommerfeld
Ich kann aus eigener Erfahrung sprechen: Vor 20 Jahren bin ich, eine gebürtige Lübeckerin, von Rostock nach Wien übersiedelt. Was mir zuerst auffiel, waren natürlich Dialektausdrücke, von denen vor allem jene zu Mißverständnissen führen, wo man im Norden dasselbe Wort kennt, es aber mit einer leicht verschobenen bzw. höher oder niedriger wertenden Bedeutung verwendet. In der Kinderkrippe meines damals jüngsten Sohnes verlangte man „ein Ersatzgewand“, wobei es sich um die für dieses Alter sehr nötige Wechselbekleidung handelte. „Gewand“ hingegen kannte ich nur für Könige, Römer und feine Damen.
Bei einer der ersten Verabredungen wartete ich mit dem Kleinkind geraume Zeit im Park in der Nähe eines Spielplatzes, weil die Mutter eines anderen Kindes sich mit uns „am Spielplatz“ treffen wollte. Wieso wir denn nicht hineingegangen seien, fragte sie, als sie verspätet eintraf. Na, „am“ bedeute „in der Nähe von, neben“, sonst hätte sie wohl „auf dem“ Spielplatz gesagt, wunderte ich mich.
Vom Zuspätkommen an sich
Mehr Eingewöhnungsschwierigkeiten bereitete mir das Zuspätkommen an sich. Der Kulturhistoriker Herbert Hahn hat 1964 in seinem dreibändigen Werk Vom Genius Europas. Begegnung mit zwölf Ländern, Völkern, Sprachen die Volksseeleneigentümlichkeiten der Deutschen beschrieben. Sehr treffend stellt er anhand einer winzigen sprachlichen Differenz einen erheblichen Wesensunterschied dar:
Im lebendigen Sprachgebrauch ist oft eine einzige Silbe, ja vielleicht ein einzelner Laut der Exponent tiefschichtiger seelischer Eigentümlichkeiten. So geschah es u.a. einmal, daß sich ein Norddeutscher und ein Österreicher zu einem Gespräch treffen wollten, das auf fünf Uhr nachmittags verabredet war. Um fünf Uhr, wie der Norddeutsche verstanden hatte. Er war pünktlich zur Stelle, aber von dem österreichischen Freunde war nichts zu sehen. Es wurde fünf Minuten nach fünf, bald zehn Minuten, dann viertel sechs: vom österreichischen Gesprächspartner noch immer keine Spur. Der Norddeutsche begann auf und ab zu gehen, erst nur unruhig, dann immer ärgerlicher. Kurz vor halb sechs kam, breit über das ganze Gesicht lächelnd, der Erwartete endlich heran. Er beeilte sich nicht im mindesten, sondern schritt, sich ganz gemütlich wiegend, einher. „Na, kommst du endlich“, brummte der Norddeutsche, „ich warte mich hier grün und blau, du hast doch gesagt, daß du um fünf hier sein wolltest!“ Der Österreicher schüttelte den Kopf: „Nein, das habe ich nie gesagt!“ – „Natürlich hast du das gesagt“, begehrte der Norddeutsche auf, „was willst du denn gesagt haben?“ – „Ich hab gesagt: um-a fünf.“ Der Norddeutsche starrte ihn erst verständnislos an. Dann aber brach er in Lachen aus und gab dem Freunde, dem er im Grunde sehr wohl wollte, einen tüchtigen Rippenstoß. Ja – das war es natürlich. Er hatte das dem um beigefügte a völlig überhört. Und wie bedeutungsvoll war doch dieses kleine a: Es war ein von der eigenen Person für die eigene Person ausgestellter Kreditbrief auf einen freien, auf einen nicht so sklavisch-pedantischen Gebrauch der Zeit. Das um-a ist gegenüber dem harten, jäh abbrechenden um von einer geradezu köstlichen Dehnbarkeit: Es macht die Zeit zu einem Wachs, das man beliebig kneten kann. Dies alles, versteht sich, im Sinne der immer mit Charme begabten österreichischen Gepflogenheiten.
Ergänzend wäre vielleicht noch zu bemerken, daß der Wiener eigentlich „um-a fünfe“ sagt; das alte Dativ-e – wie in „zur Türe hinaus“ oder „zum Ruhme Gottes“ – wird konsequent an Uhrzeitangaben angehängt.
Nun zeigt sich zwar einiges an sprachlichen Unterschieden, und diese drücken bisweilen tiefe Wesensverschiedenheiten aus, aber nicht alles, was „Fischköppe“ und „Schluchtenkraxler“ unterscheidet, ist eine Frage der Wörter.
Der Norddeutsche ist erheblich maulfaul. Mein Mann, ein Rheinländer, war in Rostock ganz verzweifelt, weil seine Studenten auch auf die einladendste Provokation hin höchstens einsilbig reagierten; lieber noch schwiegen sie beharrlich und guckten ihn bloß an. Ich habe kleine Jungens kennengelernt, die die Ruhe weg hatten, gemütvoll, freundlich, keinesfalls dümmlich, aber einfach nicht zum Plaudern aufgelegt. Der Norddeutsche „schnackt“ zwar durchaus auch gern, in anderen Regionen „klönt“ er oder „quatscht“ er, aber auch das geht manchmal in jeden West- und Süddeutschen belustigenden Kurzsätzen und stereotypen Formeln vonstatten: „Tach. Na, wie is?“ „Muscha.“ = Es muß ja. Hier geht es offenbar nicht um Sprachunterschiede, sondern um Mentalitätsunterschiede.
Was ist überhaupt eine „Mentalität“?
„Geistes- und Gemütsart; besondere Art des Denkens und Fühlens“, definiert der Duden; „Gemütsart, Denkweise, Anschauungsweise und Verhaltensweise eines Menschen, einer Menschengruppe oder eines Volkes“ die Netzseite DWDS (Deutscher Wortschatz von 1600 bis heute).
Bei beiden wird das Beispiel der „Mentalität der Norddeutschen“ genannt. Der Norddeutsche ist nach allem, was ich bisher zusammengetragen habe, nicht nur maulfaul, er ist auch pünktlich. Dazu gesellen sich Korrektheit und Obrigkeitstreue. Die zu Unrecht verdammten „preußischen Sekundärtugenden“ konnten nur auf dem Nährboden der norddeutschen Mentalität gedeihen.
Dumm ist das Nordlicht nicht, es ist nur nicht eingeweiht in ein bestimmtes Spiel.
Auf einen Süddeutschen, noch ärger: einen Österreicher wirken diese Eigenschaften im Umgang mit konkreten Leuten öfters leicht autistisch: Es soll vorkommen, daß ein Zugereister nicht nur „schmähstad“ ist, bei einer Frotzelei oder beim Spaßmachen also nicht herausgeben kann ( eben beim „Schmähführen“ in die Enge getrieben wurde; „stad“ ist eine alte Form von „gestellt“), sondern schlicht überhaupt nicht begreift, daß er gerade „gepflanzt“ wird. Er antwortete dann – typisch norddeutsch – geradeheraus die Wahrheit, falls er die Frage oder Bemerkung überhaupt kapiert hat. Wie gesagt: Dumm ist das Nordlicht nicht, es ist nur nicht eingeweiht in ein bestimmtes Spiel. Völkerpsychologen haben diese Spielmetapher auch für zwei wesensverschiedene Zugangsweisen zu Liebe und Erotik verwendet: Süd- und Osteuropäer, wozu ich meine lieben Österreicher in dieser Angelegenheit kurzerhand zählen mag, begreifen die Annäherung zwischen Mann und Frau als unverbindliches, gewissermaßen tänzerisches, mit viel schönem Schein und erheblichem Aufwand an Comment und Eleganz betriebenes soziales Spiel. Nord- und Westeuropäer sind diesbezüglich deutlich kühler, bei unsereinem ist die Liebe – jedenfalls in norddeutscher Reinform – eine Frage von Vertrauen, Ernst und Verbindlichkeit.
Ein Journalist des Standards beobachtete etwas ganz ähnliches anhand der österreichischen Redewendung „Schau ma mal“. Er schreibt:
Weder unsere westlichen noch unsere nördlichen Nachbarn, die Deutschen, haben diese in ihrem aktiven Repertoire. (…) Bei unsicheren Vorhaben und in schwierigen Lebenslagen: Schauen wir! Das ist eine Herangehensweise, die unsere straffer organisierten Nachbarn nur schwer kapieren. Für vieles braucht es dort bis ins Letzte ausformulierte Pläne, die dann selten so aufgehen. Natürlich birgt das die Gefahr eines kakanischen Durchwurstelns. Richtig eingesetzt stärkt sie unsere Ambiguitätstoleranz, eine Fähigkeit, die – mag man Soziologen Glauben schenken – besonders wichtig ist.
Mentalitätsunterschiede trotzen Nivellierern und Umerziehern.
Abgesehen davon, daß wir beide Deutsche sind und uns sowohl das „kakanische Durchwursteln“ als auch die „preußischen Sekundärtugenden“ innerhalb von hundert Jahren absichtsvoll ausgetrieben worden sind, die Typik der Mentalitäten folglich nivelliert ist, hat der Autor einen richtigen Punkt erfaßt: Unsicherheit ist für den Österreicher der seelische Normalzustand, der „eh“ unabänderlich bleibt, für den Norddeutschen ein äußeres, fast technisches Problem, das unverzüglich behoben gehört.
Ob man wohl voneinander lernen kann? Schwerlich, denn über Mentalitätsschranken kann man sich kaum willentlich hinwegsetzen, auch wenn man „Ambiguitätstoleranz“ bzw. ihr sozialpsychologisches Gegenstück, die „Authentizität“ bis zu einem gewissen Grad auch durch Vorbilder erlernen kann. Wobei der Österreicher das „Sich-etwas-Abschauen“ positiv bewertet, während man im Norden scheel beäugt wird, wenn man sich „was abgeguckt hat“, es also unecht nachahmt. Das Austreiben der Mentalitätsunterschiede dürfte also ein zäheres Stück Arbeit sein, als es sich die Nivellierer und Umerzieher vorstellen.
Über die Autorin:
Caroline Sommerfeld, geboren 1975 in Norddeutschland, studierte in Rostock Philosophie und Germanistik. Promotion dortselbst 2004 mit einer Arbeit zu Kants Ethik. Seit siebzehn Jahren lebt Sommerfeld mit ihrer Familie in Wien. Sie schreibt regelmäßig für die Zeitschrift Sezession und hat etliche Bücher veröffentlicht (Mit Linken leben 2017, Wir erziehen 2019, Vorlesen 2019, Selbstrettung. Unsere Siebensachen 2020, Versuch über den Riß 2021, Volkstod – Volksauferstehung 2021).