Monatszeitschrift für Politik, Volkstum und Kultur.

Norddeutsche Märchengestalten und ihre Namen

von Caroline Sommerfeld

In Keitum auf Sylt starb einmal eine Frau vor ihrer Entbindung, da ist sie mehrere Male dem Knecht des Predigers erschienen und hat nicht eher Ruhe im Grabe gehabt, als man ihr Schere, Nadel und Zwirn ins Grab gelegt. So tut man bei Frauen in Nordfriesland gewöhnlich. Es gibt da überhaupt manche Wiedergänger oder Gongers; denn wer unschuldig ermordet wird oder Grundsteine versetzt und Land abgepflügt hat, findet keine Ruhe im Grabe. (…) Wem ein solcher Gonger begegnet, der erschrickt nicht, sondern wird vielmehr betrübt. Der Gonger meldet sich aber nicht in der nächsten Blutsverwandtschaft, sondern im dritten oder vierten Gliede.“

Mag man noch aus dem Wortstamm „geh-“ (germanisch *gæ- „gehen“, belegt seit dem 8. Jh.) die im Neuhochdeutschen nicht gebildete Form „gongen“ und daraus einen „Gonger“, sprich „Gänger“, rekonstruieren können, so sind die „Mönöloke“, das „Allerürken“ und die „Ünnerschen“ für das Ohr des nicht aus dem Norden Deutschlands Stammenden scheinbar reine Phantasienamen.

Von Herrn Hansen auf Sylt zum Klassiker

Mir fiel aus einem Nachlaß ein Werk des Volkskundlers und Sprachwissenschaftlers Karl Müllenhoff von 1845 zu: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Ich stamme aus dem Herzogtum Lauenburg, gelegen im heutigen Bundesland Schleswig-Holstein. Das Plattdeutsche habe ich sekundär erlernt bei Plattdeutschlesewettbewerben in der Grundschule; der Tonfall, die Wortbildungs- und die Ausspracheregeln sind mir indes durch Zuhören in Fleisch und Blut übergegangen.

Karl Müllenhoff – unter Volkskundlern einst so berühmt, daß man anerkennend nur „der Müllenhoff“ schrieb – hat mündlich überlieferte und in teils sehr entlegenen Werken schriftlich niedergelegte Sagen und Märchen des norddeutschen Sprachraumes akribisch dokumentiert. Von den altnordischen Sagas bis zur damaligen Gegenwart hat er alle verfügbaren Quellen genutzt. Oft steht unter einer knapp wiedergegebenen Regionalsage oder Anekdote wie Die Heringe auf Helgoland oder Der Itzehoer Briefträger, wer ihm berichtet habe, z.B. „durch Herrn Hansen auf Sylt“ oder „durch Herrn Pastor Stark in Jordkirch bei Apenrade“.

Das oben aufgezählte „Allerürken“ spricht sich mit langem Ü aus. So ahnt der südlicher Beheimatete vielleicht schon, daß es sich um eine „Alraune“ handelt, jene durch die Harry-Potter-Jugendromane berühmt gewordene Wurzelknollenfigur, die Zauberkräfte haben soll. Die Wortherkunft der mit dem „Allerürken“ sachverwandten, in Ludwig Bechsteins Märchensammlung überlieferten „Mönöloke“ ist mir indes sprachlich nicht erschließbar: „Es ist aber die Mönöloke gewesen eine Teufelspoppe, so ohn allen Zweifel die Besitzer in des Teufels Namen verfertiget“. Daß der Berichterstatter, ein Hieronymus Saucke, in seiner Hardeshornischen Chronik die ominöse Mönöloke eine „Poppe“ nennt, ist Niederdeutsch: Theodor Storms Novelle Pole Poppenspäler hat als Hauptfigur einen Puppenspieler namens Paule, im Niederländischen heißt eine Puppe ebenfalls poppe.

Unter der Erde, meist in alten Grabhügeln oder unter Ruinen, wohnten kleine Leute.

In Holstein hat man diese „Unnerske“, auf Sylt „Önnerske“ genannt, in meiner unmittelbaren Heimat „Unterersche“, die Unterirdischen. Sie sind den heutigen Lesern nur aus weit nördlicheren Gefilden bekannt. In Astrid Lindgrens Ronja Räubertochter gibt es die lustigen „Rumpelwichte“, in ihrem traurigen Märchen Die Schafe auf Kapela wird ein Mädchen von einer Unterirdischen geholt. In einer nordschleswigschen Sage tut sich auf ein verballhorntes Bibelzitat hin die Unterwelt auf:

„In Husby da liggt een lütte Barg upn Felde; da wahnen de Ünnerschen. Enmal da weer da en Deern bi den Barg, de kunn dat Stichwoord; da hör se de Ünnerschen botern (buttern, d.h. Butter schlagen). (…) Da sä se: ‚Epraim tu dich auf!‘ Da klaff de Barg ut enanner un se künn da herin sehn, wo de Ünnersche da stünn un boter.“

Etliche der Müllenhoffschen Sammelstücke künden davon, daß arme Sünder sich dem Teufel und seinem vielgestaltigen heidnischen Gefolge verschrieben hätten oder aber das Figurenpersonal des heidnischen Aberglaubens durch christliche Riten wie Kreuzzeichen, Kirchturmuhr, Stoßgebete oder den richtigen Namen habe gebannt werden können – das „Rumpelstilzchen“ ist bekannt, dem gleichen Namensbann unterstanden im hohen Norden seine skurrilen Vettern „Knirrficker“, „Terpentiren“ und „Ecke Neckepenn“. Letzterer Gesell ist mir noch namentlich bekannt aus dem Plattdeutschwettbewerb.

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