Neue Serie: Mythen, Sagen, Wundersames (I)
von Alain Felkel
Vampire gehören zu den bekanntesten Mythenwesen der westlichen Welt. Als ihre Heimat gilt Transsylvanien, seit Bram Stoker sie mit seinem Roman Dracula 1896 weltberühmt machte. Weniger bekannt ist dagegen die entscheidende Rolle des Habsburgerreiches und des deutschen Kinos hinsichtlich der Entstehung des modernen Vampirmythos’ in Literatur und Film.
In vielen Kulturen ist der Glaube an die Wiederkehr Verstorbener tief verwurzelt. Nicht immer sind die Toten gute Geister, es gibt auch böse Verstorbene, die den Lebenden Schaden zufügen. Dazu gehören Vampire und Wiedergänger. Beide zählen zu den sogenannten Untoten, die im Grab keine Ruhe finden. Während der Vampir vom Blut der Lebenden zehrt, irrt der Wiedergänger meist zur Buße eines Frevels ruhelos umher, wobei er viel Unheil anrichtet. Oft jedoch verschmelzen beide Arten, wie folgender Fall beweist.
Ein unruhiger Geist im Zipser Land
Im Juli 1719 berichtete das Nürnberger Journal „Der Europäische Niemand“ die unglaubliche Geschichte des polnischen Weinhändlers Michael Kasparek aus Lublau in der Zips, der angeblich als Wiedergänger sein Unwesen getrieben hatte. Kasparek war nach einer Handelsreise nach Warschau am 28. Februar 1718 verstorben, wenig später jedoch seiner Umgebung als Wiedergänger erschienen. Als Untoter hatte er diverse Dorfbewohner körperlich mißhandelt, seine Frau und deren Mägde geschwängert und später zu allem Überfluß auch noch Brandstiftung begangen. Vergeblich hatten die Behörden daraufhin seine Leiche aus dem Sarg genommen, sein Herz vergraben, den Toten geköpft und verbrannt. Der Spuk war weitergegangen und hatte erst aufgehört, nachdem Kaspareks Herz wieder ausgegraben und im Rathaus von Lublau den Flammen übergeben worden war.
Erste Vampirismen
Was von der Obrigkeit und der Kirche als Ende des Untoten angedacht war, erweckte ihn fiktional zu neuem Leben. In der Folgezeit wurde der Fall des Wiedergängers Kasparek zur Sage überhöht und der einstige Wiedergänger nachträglich sogar zum Vampir erklärt, nachdem in den serbischen Dörfern Kisilova und Medvegya in den Jahren 1725 und 1731 regelrechte Vampirepidemien stattgefunden hatten. Der Verlauf war dabei immer der gleiche: Stand ein Verstorbener im Verdacht, ein Vampir zu sein, wurde der Sarg nach 40 Tagen geöffnet. Zeigte sich der Leichnam dann kaum verwest oder beleibter als zuvor, und floß ihm Blut aus Nase oder Mund, galt er als Vampir. Jetzt war es an der Zeit, den Untoten zügig zu exekutieren. Hierbei gab es verschiedene Varianten der Vampirhinrichtung: Herzpfählung, Enthauptung oder die Einäscherung des gesamten Leichnams beziehungsweise die gesonderte Verbrennung seines Herzens.
Der Vorfall von Freihermersdorf
Erzherzogin Maria Theresia von Österreich, Königin von Ungarn und Böhmen, ängstigte die Ausweitung des Vampirismus’ als gefährliche Form des Aberglaubens, der durch kirchliche Würdenträger immer wieder befeuert wurde. Wie beunruhigend diese Entwicklung war, zeigte sich 1755 in Freihermersdorf in Mähren. Als dort 30 Menschen infolge einer unbekannten Seuche starben, war der Vampirverdacht schnell zur Hand. Angeblich hatte eine der zuerst Verstorbenen nach ihrem Tod einige Dorfbewohner als Vampir heimgesucht, ihnen jegliche Lebenskraft genommen und sie zu Blutsaugern gemacht. Daraufhin identifizierte die örtliche Geistlichkeit 19 Erwachsene und ein Kind – allesamt bereits verstorben – als Vampire und richtete diese postmortal hin. Nun wurde es Maria Theresia zu bunt. Sie mußte energisch durchgreifen, bevor der Vampirismus andere Orte erfassen konnte und entsandte zur Untersuchung der Vorfälle einen Arzt und Anatomen nach Freihermersdorf.
Das Ende der Vampirepidemie
Die beiden Mediziner examinierten die Vorfälle akribisch und schickten ihre Ergebnisse an Gerhard van Swieten, den Leibarzt Maria Theresias, der ihre Resultate in einem Bericht zusammenfaßte. Dabei kam der Niederländer zum Schluß, daß alle Toten eines natürlichen Todes gestorben seien. Des weiteren führte er aus, daß gewisse Temperatur-, Luft- und Bodenverhältnisse die geringe Leichenverwesung der Toten begünstigen und Leichengase die toten Körper „schmatzen“ lassen würden. Gleichzeitig führte er scharfe Klage gegen den Aberglauben der lokalen Behörden und der Kirche und empfahl deswegen, die Existenz der Untoten als Aberglauben zu kategorisieren. Maria Theresia folgte seinem Rat und verbot in der Aberglaubens-Abstellung von 1755 jegliche Form von Vampirhinrichtung. In Zukunft waren nur noch weltliche Behörden für solcherlei Fälle zuständig. Ein Zuwiderhandeln wurde gerichtlich geahndet. Die Maßnahme hatte Erfolg und beendete die „Vampirepidemie“ im Habsburgerreich.
Lenores Höllenritt
Dennoch starb der Vampir- und Wiedergängerglaube in Mittel- und Osteuropa nicht aus. Zu stark war die menschliche Lust an übernatürlichen, grauenerregenden Vorgängen, zu groß die Versuchung der Literaten, den Stoff endlich in ein formvollendetes fiktionales Gewand zu kleiden. Bereits 1773 griff Gottfried August Bürgers Schauerballade Lenore das Wiedergängermotiv erneut auf. Die Handlung des 32-Strophen-Gedichtes spielt vor einer historischen Kulisse. Lenores Verlobter Wilhelm zieht in den Krieg und fällt 1756 in der Schlacht von Prag, was Lenore nicht erfährt. Ahnungslos wartet sie auf Wilhelms Rückkehr und lästert Gott. Warnend mahnt Lenores Mutter, daß sie in die Hölle käme, wenn sie so weitermache. Lenore verwirft die Einwände. Sollte Gott sie doch bestrafen, Hauptsache Wilhelm käme wieder! Ihr Wunsch wird erhört. Kaum ausgesprochen erscheint Lenores toter Verlobter plötzlich in seiner einstigen Gestalt auf einem riesigen Rappen. Unter dem Vorwand, sie zum Hochzeitsbett zu bringen, reitet er mit ihr zu seinem Grab, wo sein Leib skelettiert und er Lenore ins Totenreich entführt.
Die Blutspur Draculas
Das Gedicht beeinflußte viele westliche Vampirdichtungen und Blutsaugererzählungen, unter anderem Vampirismus von E.T.A. Hoffmann, Carmilla von Joseph Sheridan Le Fanu und Dracula von Bram Stoker, der die Sagengestalt des Vampirs endgültig zum Mythos erhob. Graf Dracula wurde zum Sinnbild des Vampirs. Gleichzeitig avancierte die Handlung seines Romans zum Erzählkanon des Vampirstoffes. Seitdem warten ganze Generationen von Draculas in einem Schloß in Transsylvanien auf den Einbruch der Nacht, um kurz darauf dem Grab zu entsteigen und ihre Vampirzähne gierig in die Halsader ihrer Opfer zu schlagen.
Nosferatu – Symphonie des Grauens
Noch größere Wirkung erzielte Dracula im Kino, das sich seit Beginn des 20. Jh. langsam zur „Mythenmaschine“ mauserte. Der deutsche Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau adaptierte Stokers Roman im Auftrag der Prana-Film filmisch und erschuf 1922 mit Nosferatu – Symphonie des Grauens ein epochales Meisterwerk, das dem Vampir auf der Kinoleinwand zum Durchbruch verhalf. Murnaus gekonnte Inszenierung sowie die eindringliche Spielweise des Hauptdarstellers Max Schreck als Graf Dracula setzten einen neuen Maßstab des Horrors und sind bis heute richtungsweisend für jede weitere Verfilmung des Stoffes. Um Geld für teure Studiobauten zu sparen und dem Film eine authentische Atmosphäre zu verleihen, drehte Murnau an Originalschauplätzen, darunter die Burg Arwa in der Slowakei. Der Film fesselte das Publikum, ruinierte indes die Produzenten Albin Grau und Enrico Diekmann. Die Ufa weigerte sich, Murnaus Werk abzuspielen, der Film konnte nur in kleinen, unabhängigen Kinos laufen. Zudem hatten die Produzenten finanziell schlecht gewirtschaftet und den Fehler begangen, Stokers Roman zu verfilmen, ohne die Buchrechte erworben zu haben. Das rächte sich jetzt. Die Witwe Bram Stokers verklagte die Prana-Film auf Schadensersatz. Nachdem ein Vergleich zwischen ihr und der Prana-Film gescheitert war, wurde der Streifen gepfändet und die Prana-Film dazu verpflichtet, alle Kopien des Meisterwerks zu vernichten. Der Film verschwand aus den Kinos, kaum daß er angelaufen war. Doch die Nachwelt hatte Glück: Trotz des Vernichtungsfeldzuges gegen den Nosferatu-Film wurde ausgerechnet Murnaus Werk unsterblich und zur Blaupause aller Vampirfilme des Horrorgenres. Nun war der Vampir auch im Kino zum Mythos geworden.