von Caroline Sommerfeld
Daß die Sprache, die ein Mensch am besten spricht, weil er sie als erste erlernt hat, seine „Muttersprache“ sei, ist keine bloße Metapher. Natürlich lernt jedes Kind die ersten Worte von beiden Eltern, von den Geschwistern und Großeltern, aber mit der Sprache der Mutter hat es eine besondere Bewandtnis. Nicht nur spricht die Mutter sehr oft zuerst in einer „Babysprache“ mit ihrem Kind, sie tut dies auch in einer höheren Tonlage als alle anderen Bezugspersonen. Dies muß man keiner jungen Mutter beibringen oder erklären, sie tut es aus einem Gefühl heraus, das sie selbst nicht erklären könnte.
Die Sozialpsychologie versucht, dies zu erklären, kommt dabei aber oftmals nicht über Messungen und Verhaltensforschung hinaus, weil ihr der Begriff des Seelischen abhandengekommen ist. In meinem Buch Wir erziehen (2018) habe ich diesen Umstand auf den Bruch der Sozialwissenschaft mit der Geisteswissenschaft in der Pädagogik zurückgeführt. Die geisteswissenschaftliche Pädagogik bis in die 1950er-Jahre hinein konnte das Phänomen der Muttersprache beschreiben, indem sie aus der sprachlichen Tradition der Philosophie, Literatur und Religion schöpfte.
Es ist nämlich möglich, die „Muttersprache“ als eigene Sprachqualität zu begreifen, wenn man von einem Unterschied im Wesen zwischen Mutter und Vater, von Frau und Mann ausgeht.
Die Theologin und Pädagogin Magdalene von Tiling hat in ihrem Werk Grundlagen pädagogischen Denkens 1932 festgehalten:
Bei dem Mann schlägt gleichsam das geistige Leben vor, bei der Frau das seelische Leben. (…) Sie empfindet ihr Leben stets in einen geschlossenen Kreis hineingestellt; was innerhalb ihres Kreises ist, zieht sie in sich hinein; (…) während bei der Frau durch den Vorschlag des seelischen Lebens und die stärkere Verbundenheit aller Seiten ihres Seins eine größere Ichbezogenheit vorhanden ist.
Daß die Frau – stets: idealtypischerweise – wesentlich „seelisch“ verfaßt ist, bedeutet, daß sie ein reicheres Innenleben hat, alles in der Welt von ihrem leiblichen Mittelpunkt her erfaßt und das Gefühlsleben dem Verstandesleben vorgeht. Dementsprechend muß auch ihre Sprache verfaßt sein: ein „geschlossener Kreis“ wiederkehrender Redewendungen und Ausdrücke, häufige persönliche Ich-Aussagen. Die Regungen der weiblichen Seele prägen Wortwahl und Klang emotional. Wenn Mütter ihren Kindern jenseits des Babyalters die Welt zu erklären beginnen, geschieht das von Natur aus auf genau diese Weise. Wenn sie Geschichten erzählen und Lieder singen, ebenso.
Der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim erwähnt in seinem Klassiker Kinder brauchen Märchen (1975) die Mutter Goethes, die dieser mit den bekannten Zeilen charakterisiert hat:
„Vom Vater hab ich die Statur /des Lebens ernstes Führen, / vom Mütterchen die Frohnatur und Lust zu Fabulieren.“
Bettelheim schreibt:
Goethe wußte, daß wir ein reiches Phantasieleben brauchen, um das Leben genießen und seine schwere Arbeit bewältigen zu können. Etwas von dieser Fähigkeit und diesem Selbstvertrauen gewann Goethe dadurch, daß seine Mutter ihm Märchen erzählte, und wie sie dabei vorging, zeigt uns, wie sie den Erwachsenen und das Kind, die jeweils Eigenes beisteuern, zu verbinden vermögen.
„Mit jedem Wort, das wir von der Mutter, dem Vater, den Geschwistern, den Freunden und Lehrern übernahmen, haben wir etwas vom Herzen und Geist unseres Volkes in uns aufgenommen.“
Weiter beschreibt er, daß die Mutter die Gefühle ihres kleinen Sohnes genau spürte und in die Erzählweise einbaute. Manches Mal unterbrach er sie und sprudelte erregt heraus, wie es wohl weitergehen müsse, worauf ihn die Mutter gern ihrerseits unterbrach und am nächsten Tag die Erwartungen des kleinen Johann Wolfgang bestätigte und dessen Phantasiewörter aufgriff. Märchen erfüllen zudem ein Urbedürfnis der Kleinkinder: die Wiederholung des Immergleichen. Mütter sind schon leiblich genau darauf ausgerichtet: Stillen, Füttern, In-den-Schlaf-singen, Wiegen – wieviel mehr Vergnügen bereitet es der Mutter und dem älteren Kind, diese Wiederholungen auch im Sprechen zu pflegen.
„Die Muttersprachen sind die Völkerherzen, welche Liebe, Nahrung und Wärme aufbewahren und umtreiben“ (Jean Paul). Der Sprachwissenschaftler Wilhelm Schneider deutete diesen Satz treffend folgendermaßen, womit ich meine Anmerkungen zur Muttersprache schließen möchte:
Und jetzt die Nutzanwendung auf uns alle, die wir Deutsche sind! Als kleine Kinder haben wir begonnen, den Gedankenschatz unserer Vorfahren, diesen „Königsschatz“, uns zu eigen zu machen; mit jedem Wort, das wir von der Mutter, dem Vater, den Geschwistern, den Freunden und Lehrern übernahmen, haben wir etwas vom Herzen und Geist unseres Volkes in uns aufgenommen.