Bild: Rassemblement National

Marine Le Pen und das französische Dilemma

von Benedikt Kaiser.

Hinter Frankreich liegen fünf Jahre Amtszeit des liberalen Präsidenten Emmanuel Macron. Als er 2017 in der Stichwahl die Kandidatin des Rassemblement National (RN; ehemals Front National) Marine Le Pen schlug, war er aber nicht nur der Kandidat seiner Formation En Marche – als solcher hätte er das Wahlergebnis von 66,1% nicht erzielen können. Macron war vielmehr Einheitskandidat aller Anti-rechts-Kräfte der einstigen Grande Nation.
Marine Le Pen hingegen wurde von der Presse als europa- und migrationsfeindliche Gefahr vom rechten Rand gebrandmarkt. Diese anhaltende Diabolisation (dt. Dämonisierung) begrenzte 2017 den Wirkungsgrad nationaler Politik in Frankreich auf 33,9%, was in anderen Staaten ein beachtlicher Erfolg gewesen wäre.

Die Tochter des nationalistischen Grandseigneurs Jean-Marie Le Pen zog in Folge dieser Wahl das Fazit, den Weg der Selbstmäßigung (und „Entdämonisierung“) weiter zu beschreiten, um aus dem „Ghetto“ ausbrechen zu können. War ihre Partei schon 2017 nicht mehr jene nationalistisch-populistische Kraft, die sie einst unter dem „Alten“ gewesen ist, sollte weiter an der eigenen Programmatik und am Auftreten gefeilt werden.

Für Marine Le Pen war klar: Der Weg würde über einen sozialen, gewissermaßen „integrativen“ Patriotismus führen, der das alte Image einer Partei von „Fremdenfeinden“ überwinden muß. Auf diesem Weg hat sie essenzielle Positionen der Partei über Bord geworfen – und dabei auch führende Personen ausschließen lassen, selbst ihren Vater, den einstigen Gründer des FN. In der Folge verließen weitere Kader freiwillig die Partei. Dieser doppelte Aderlaß durch Ausschlüsse und Austritte machte es Marine Le Pen leichter, ihren Kurs fortzuführen: optische Modernisierung einerseits, Profilschärfung über sozialpolitische Inhalte andererseits.

Unter Arbeitern, Angestellten und kleinen Selbständigen bestplaziert

Der volksnahe und „sozialpopuli- stische“ Kurs Le Pens hat Vor- und Nachteile. Ein Vorteil: Ihr gelingt es nicht nur, unter Arbeitern, Angestellten und kleinen Selbständigen bestplaziert zu sein. Ihr gelingt es zudem, überdurchschnittlich viele Frauen für sich und ihren RN zu begeistern. Das ist europaweit wohl einmalig für eine „rechte“ Partei. Auch sind die Zustimmungswerte in der Generation der 18- bis 35jährigen Franzosen immens. Aber dennoch gelingt es ihr nicht, diese bestehenden Resonanzräume zu erweitern.

Vielmehr hat Le Pens Kurs der Anrufung der sozialen Gerechtigkeit, der sich auf die „Volksklassen“ stützt, Angehörige anderer gesellschaftlicher Schichten verprellt – dies ist der Nachteil des neuen Kurses. Neben dieser „klassenpolitischen“ Verschiebung ist überdies zu bedenken, daß die stiefmütterliche Behandlung der Themen Islamismus, Migrantengewalt und Zuwanderung zu weiteren Abwendungen von Le Pen geführt hat.

Beides, Le Pens Sozialorientierung und ihre Vernachlässigung „klassischer“ rechter Themen, nutzt die PR-Maschine Éric Zemmour aus. Der französische Schriftsteller mit jüdisch-algerischen Wurzeln ist neben Marine Le Pen ein ebenfalls „rechter“ Kandidat zur Präsidentschaftswahl 2022. Er vertritt auf seinen professionell inszenierten Veranstaltungen die Theorie vom „Großen Austausch“. Zemmour fokussiert sich auf dieses Themenfeld und zieht migrations- und islamkritische Wähler an.
Während also Le Pen versucht, thematisch in die Breite zu gehen, hat sich Zemmour entschieden, „ausschließlich das sensible Problem der Immigration und des Islams aufzugreifen“, wie der französische
Philosoph Alain de Benoist beobachtet. Zu vielen anderen Bereichen der Politik äußert er sich bewußt nicht. Das würde seine potentielle Wählerschaft spalten. Sein Anspruch lautet: Wir werden alle echten Rechten vereinen. Für Marine Le Pen hingegen sind „rechts“und „links“ Begriffe, die im 21. Jahrhundert überflüssig geworden sind. Mit diesen unterschiedlichen Herangehensweisen erreichen beide Kandidaten andersgeartete Zielgruppen. Zemmour adressiert das in Frankreich in Teilen noch regsame patriotische (Groß-)Bürgertum, Le Pen wie erwähnt die untere Mittelschicht und
die Arbeiterklasse.

„Alltagsthemen“ sind das Revier von Le Pen

In einer parlamentarischen Demokratie mit Verhältniswahlrecht wie in Deutschland und in Österreich wäre das eine sinnige programmatische und klassenpolitische Arbeitsteilung. Jede Partei würde in den Parlamenten über eigene Fraktionen verfügen, Kooperationen wären jederzeit möglich. Aber in Frankreich, wo das restriktive Mehrheitswahlrecht Gültigkeit besitzt, schadet der getrennte Wahlantritt dem rechten Lager. Le Pen steht in den jüngsten Umfragen bei 16 bis 18 Prozent, Zemmour bei 10 bis 13 Prozent. Tendenz bei Le Pen: steigend. Tendenz bei Zemmour: sinkend.

Das liegt unter anderem am Ukraine-Krieg und der damit verbundenen Verschiebung der Aufmerksamkeit der Franzosen: Nun geht es weniger um grundlegende Fragen wie die Rückerlangung nationaler Identität – das Revier Zemmours; sondern stärker um „Alltagsthemen“ wie explodierende Benzinpreise und sinkende Kaufkraft – das Revier Le Pens. Während sie in der angebrochenen Endphase des Wahlkampfs umfassende soziale Reformen zugunsten der Bevölkerungsmehrheit einfordert und Rußland-Sanktionen ablehnt, weil die finanziellen Folgen das französische
Volk träfen, bleibt Zemmour bei seinem Schema: Das Hauptpro-blem blieben der Bevölkerungsaustausch und die geschwächte französische Identität.

Es ist unwahrscheinlich, daß Zemmour damit den Rückstand auf Marine Le Pen verkürzen kann, obschon ihm zuletzt einige Coups gelangen, darunter der medial für Furore sorgende Übergang der Le Pen-Nichte Marion Maréchal in sein Lager. Die Stichwahl aber wird Marine Le Pen erreichen. Sie selbst stünde dann aber vor dem
2017er Problem: Macron als Kandidat einer Allparteienfront wird wiederum der strahlende Sieger sein.

Und danach? Danach müßte die französische Rechte die Scherben aufsammeln und überlegen, wie es angesichts einer 2/3-Mehrheit „gegen rechts“ weitergehe. Das wird schwierig. Denn auch wenn Zemmour und Le Pen einander nicht offen bekämpfen: Zahlreiche Vertrauensverhältnisse sind zu Bruch gegangen, und den jeweiligen Überläufern zum anderen Kandidaten verzeiht man nicht.

Zemmour könnte erhobenen Hauptes zurück in seine Rolle als Bestsellerautor treten, als ein „französischer Sarrazin“ mit Feuer und Ausstrahlung – aber Le Pen? Ist sie nicht am Ende ihrer politischen Karriere angelangt, wenn ihr selbst die eigene Nichte die Unterstützung verweigert? Wenn führende RN-Politiker das lange gemeinsam gelenkte Schiff verlassen haben? Wenn sie zwei Präsidentschaftswahlen verloren haben wird?

So oder so: Nach dem erneuten Wahlsieg Macrons muß die französische Rechte in Inventur. Marine Le Pen dürfte dabei vielen als Bremsklotz erscheinen. Denn mit ihr wäre ein künftiges Sammlungsprojekt beider Lager eher unwahrscheinlich. Aber Zemmour unterordnen wird sich der RN ebenso wenig. Vielleicht muß der Tag nach der Wahl daher ein Tag des Neubeginns für die parlamentarische Rechte in Frankreich sein. Und zwar ohne die beiden bisherigen Leitwölfe.

Über den Autor:
Benedikt Kaiser, Jg. 1987, studierte Politikwissenschaft; er arbeitet als Lektor und Publizist, politischer Kommentator und Analyst. Kaiser schreibt regelmäßig für Sezession (BRD), Kommentár (Ungarn), Tekos (Belgien) und Abendland (Österreich). Für Éléments und Nouvelle École aus Frankreich ist er deutscher
Korrespondent.

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