von Till Kinzel
Der Dichter Ludwig Tieck (1773–1853) gehört zu den eher verborgenen Klassikern. Denn bis heute gibt es keine vollständige Werkausgabe – ein großes Versäumnis der etablierten Germanistik. Tiecks Ansehen in der Literaturgeschichte hatte gelitten, auch weil ihn der George-Jünger Friedrich Gundolf einst als „Literaturgreis“ und „Unterhaltungsschriftsteller“ abgetan hatte.
Aber dieses Urteil hat keinen Bestand, läßt man sich einmal auf die reiche Vielseitigkeit seiner Werke ein. Tieck schrieb Erzählungen, Romane, Gedichte, Dialoge und witzige Dramen (Der gestiefelte Kater), übersetzte Cervantes und Shakespeare. Tieck glänzte, vor allem in seiner Dresdner Zeit, als begnadeter Vorleser, sodaß er zu einem bedeutenden Kulturvermittler wurde. Auch das Mittelalter und die alte deutsche Kunst lagen ihm am Herzen. In seinem Roman Franz Sternbalds Wanderungen ließ er einen Schüler Albrecht Dürers auftreten, der die Welt mit dem Blick des Malers betrachtet. Der wandernde Künstler Sternbald mit seiner Empfänglichkeit für Stimmungen steht zugleich für eine tiefe Einsicht, die Madame de Staël auf den Punkt brachte: „Dies träumerische Wanderleben wird nur in Deutschland recht empfunden und verstanden.“ Sternbald wurde zum Sprachrohr Tiecks, wenn er Kunst und Künstler entschieden gegen das bloße Nützlichkeitsdenken verteidigte.
Tieck erkennt scharfsichtig das Zweideutige an der damaligen Wirklichkeit, was es ihm erlaubt, die rationalistisch verengte Aufklärung hinter sich zu lassen. Bei Tieck sind in großer Dichte die klassischen Elemente der Romantik versinnbildlicht: das Klappern der Mühle am rauschenden Bach, immer wieder die Waldeinsamkeit, das silberne Licht des Mondes im Gebirge, der Klang der Waldhörner einer fernen Jagdgesellschaft, der Gesang der Nachtigall; und auch die blaue Blume taucht bei ihm schon auf. Dann aber auch – und das führt rasch in den Bereich des Abgründigen – Bergwerke, deren Schätze die ihnen Verfallenen mit Gewalt in ihren Bann ziehen. Diese Welt erscheint dem Romantiker wie Tieck einerseits verzaubert, andererseits dringen die falschen Ideale in sie ein, die sich in der Gier nach Gold symbolisch verdichten.
Kunstmärchen wie Der blonde Eckbert oder Der Runenberg, in denen dieses Verhängnis mustergültig gestaltet ist, lassen sich nicht in rationalistische Klarheit im Sinne der Philosophie überführen. Hier bleibt das in die Erzählung verwobene Rätsel im Letzten un(auf)geklärt, weil in der Schwebe bleibt, ob Traum und Wirklichkeit sich klar voneinander abgrenzen lassen. Der zum Mörder gewordene Ritter Eckbert, der zuletzt seinen Sinnen erst recht nicht mehr trauen kann, steht beispielhaft für jene Zweideutigkeit: „Das Wunderbarste vermischte sich mit dem Gewöhnlichsten, die Welt um ihn her war verzaubert“.
Durch einen Zufall kam Tieck früh in Berührung mit einem der rätselhaftesten und dunkelsten, zugleich aber auch sprachgewaltigsten Denker des deutschen Barocks, mit dem Schuster Jacob Böhme. Dieser fand als „philosophus teutonicus“ in der Generation Schellings und Hegels ein großes Echo; für Tieck war diese Begegnung ein tiefgreifendes Erlebnis: „Ich ward geblendet von dem Glanz des innigsten, blühendsten Lebens, von der Fülle der Erkenntniß, erschüttert ward ich von dem Tiefsinn und von dem Aufschluß beglückt, der sich aus diesem neuentdeckten Reiche über alle Rätsel des Lebens und des Geistes verbreitete.“ Tieck vertiefte sein Böhme-Studium nach dem Tod seines engen Freundes Novalis, mit dem er das starke Interesse an der Mystik des Schlesiers geteilt hatte.
Der typische Romantiker Tieck findet seine Vollendung mit dem Runenberg und dem Blonden Eckbert – hier zeichnet er in einer unheimlich zu nennenden präzisen Sprache eine Schreckenswelt, in der sich Inneres und Äußeres verwirren und miteinander im Streit liegen. Das Bedrohliche, das hier erscheint, weckt aber auch die Sehnsucht nach Ruhe, Sicherheit, sogar nach Gemütlichkeit und Bequemlichkeit. All das gehört zum Kern des heute meist verleumdeten Biedermeiers, mit dem der späte Autor Tieck oft genug identifiziert wird. Aber der Schrecken, gegen den er anschreibt, ist die historisch gesättigte Einsicht in die Zerbrechlichkeit der bürgerlichen Zivilisation, wenn diese, wie Tieck es eindrucksvoll in seiner Novelle Hexensabbat geschildert hat, durch Fanatiker und Opportunisten bedroht wird. Neben dem Schrecken bleibt aber als Refugium die „Waldeinsamkeit, / Die mich erfreut, / So morgen wie heut / In ew’ger Zeit, / O wie mich freut / Waldeinsamkeit.“