von Martin Hobek
Liechtenstein gilt heute in Europa als der zweite reiche Zwergstaat neben Monaco. Die Fürstenfamilie residiert in einem Schloß, das auf einem Felsen über der Hauptstadt Vaduz thront. Bis 1938 regierten die Fürsten aber von zwei Schlössern aus, die heute Teil der Tschechischen Republik sind und bis 1919 in Niederösterreich bzw. Südmähren lagen.
Die Stammburg der Liechtensteiner befindet sich südlich von Wien.
Sie liegt auf einem lichten, also hellen Stein bzw. Felsen und soll dem Geschlecht auch den Namen gegeben haben. Das heutige Kleinod am Rhein kauften die Liechtensteiner erst 1699. Besonders viele Güter erwarben sie im heutigen niederösterreichischen Weinviertel, wo es in Städten wie Mistelbach oder Poysdorf eine Liechtensteinstraße gibt, in ganz Mähren und im bis 1919 österreichischen Teil von Schlesien. Als der spätere Bauernbefreier Hans Kudlich zum Studieren nach Wien geschickt wurde, mußte dessen Vater erst beim Gutsbesitzer um Erlaubnis fragen – einem Liechtensteiner, der auch Herzog von Troppau und Jägerndorf war. Einige Liechtensteiner fungierten auch als Bischöfe von Olmütz.
Selbst als das seit 1719 reichsunmittelbare Fürstentum Liechtenstein durch den Wiener Kongreß 1815 zu einem eigenständigen Staat und Mitglied des Deutschen Bundes wurde, verblieben die Fürsten auf ihrem Schloß Feldsberg im niederösterreichischen Bezirk Mistelbach. Während der Sommer verlegten sie ihre Residenz ins benachbarte südmährische Eisgrub. Dort hatten sie ein Schloß im englischen Tudor-Stil (Bild), was insofern gut paßt, als die Melodie der liechtensteinischen Nationalhymne ident mit der britischen ist. Allerdings wurde mittlerweile im Text das zweimal vorkommende Wort „deutsch“ eliminiert und durch andere Begriffe ersetzt…
In Eisgrub und Umgebung tobten sich die Liechtensteiner richtig aus. In den weitläufigen Schloßpark bauten sie ein weithin sichtbares Minarett, das man besteigen kann, und ein römisches Aquädukt, das die Grundlage für einen Wasserfall bildete und durch eine künstliche Grotte ergänzt wurde. Ein großes Gewächshaus beim Hauptgebäude durfte nicht fehlen. Aber auch der Schloßpark selbst ist heute eine Art Naturkundemuseum. Wann immer ausländische Prominenz zu Besuch kam, brachte sie Saatgut oder Setzlinge mit, sodaß man heute so manche Baumriesen aus Amerika oder Asien bewundern kann. Unter der Paulanerkirche des Wallfahrtsortes Wranau/Vranov u Brna, der sich hinter der mährischen Landeshauptstadt im Brünner Karst findet, richteten die Liechtensteiner ihre Familiengruft ein.
Mit der Niederlage und dem Zerfall der Donaumonarchie geriet auch das kleine, neutrale Liechtenstein in den Strudel großer Politik.
Die Tschechen, die es verstanden hatten, sich als selbstbefreite Siegernation darzustellen, wollten sich das ganze Weinviertel bis zur Donau einverleiben. Zu diesem Zwecke ließen sie in Paris sogar Landkarten kursieren, in denen das Marchfeld als „Champs de Moravie“, also als „Mährisches Feld“, bezeichnet wurde. Damit kamen sie nicht durch, da aber Eisenbahnlinien damals noch essentiell waren, gelang es ihnen, zwei niederösterreichische Gebiete usurpieren zu dürfen: den Bahnhofsstadteil Wielands des waldviertlerischen Gmünds sowie Feldsberg. Die Österreicher boten bei den Friedens„verhandlungen“ den Bau einer Eisenbahnlinie auf eigene Kosten weiter nördlich an, aber die Tschechen lehnten ab. So gehörten plötzlich beide liechtensteinischen Residenzen zur neuen Tschechoslowakei. Damit aber nicht genug: Die deutschen Großgrundbesitzer wurden enteignet und mußten nachweisen, daß sie ihr Eigentum schon vor Beginn des Dreißigjährigen Krieges 1618 besessen hatten. Das ist ungefähr so, als würde der österreichische Staat alle Türkischstämmigen enteignen, und diese müßten belegen, daß sie ihre Häuser, Eigentumswohnungen, Kleingärten, Dönerstände etc. schon vor der Zweiten Türkenbelagerung 1683 besessen hatten. Die Liechtensteiner verloren auf diese Weise mehr als die Hälfte ihres umfangreichen mährisch-schlesischen Besitzes.
Daß die Fürstenfamilie nach Vaduz übersiedelte, lag aber an den Nationalsozialisten. Als der Druck auf Österreich immer größer wurde, begann Franz I. ab 1936, in Vaduz eine Residenz einzurichten. Franz I. starb am 25. Juli 1938 als letzter liechtensteinischer Fürst in Feldsberg und wurde als letzter in Wranau beigesetzt. Mit dem Anschluss Österreichs 1938 hatte Liechtenstein plötzlich eine gemeinsame Grenze mit Deutschland. Infolge der Münchner Konferenz im September 1938 gehörten Feldsberg und Eisgrub ebenso schlagartig zum Reichsgau Niederdonau. Der neue liechtensteinische Fürst Franz Josef II. wurde am 2. März 1939 von Adolf Hitler in Berlin empfangen. Die Unterredung dauerte nicht einmal eine halbe Stunde, Hitler sah in Liechtenstein ein bedeutungsloses Anhängsel der Schweiz, was den Fürsten erleichtert nach Vaduz zurückkehren ließ. Als er die meisten mobilen Kunstschätze seiner „niederdonauischen“ Schlösser nach Vaduz brachte, konnte man ihm das nicht verwehren – in Anbetracht des Bevorstehenden eine weise Entscheidung.
1945 wurden die alteingesessenen Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien aus der wiederentstandenen Tschechoslowakei vertrieben. Ihr immobiler Besitz wurde mittels der berühmt-berüchtigten Beneš-Dekrete gratis an ansiedelungswillige tschechische Privatpersonen vergeben. Die Liechtensteinischen Schlösser wurden verstaatlicht. Somit spielte der kommunistische Umsturz 1948 diesbezüglich keine Rolle mehr. Die Liechtensteiner versuchten wiederholt, ihre Güter zurückzuerhalten, scheiterten aber. Als die Tschechische Republik EU und EWR beitreten wollte, war Liechtenstein Mitglied in letzterem. Theoretisch hätte man die Veto-Trumpfkarte spielen können, praktisch aber nicht. Zu drängend war das Interesse Brüssels, das wesentlich größere und zentral gelegene Tschechien aufzunehmen. Daß Liechtenstein nicht mehr das arme Bauernländchen von früher, sondern zu großem Wohlstand aufgestiegen war, trug wohl psychologisch auch zur Akzeptanz des Unrechts bei.

Freundlichkeit nur gegen Tschechischkenntnisse
Wie sieht es heute, achtzig Jahre nach der Vertreibung der alteingesessenen deutschen Bevölkerung aus den liechtensteinischen Residenzorten, in diesen aus? Der Lokalaugenschein beginnt in Valtice, wie Feldsberg heute heißt. Der Hauptplatz ist „aufgeräumt“, auf den Straßen sieht man nur wenige Menschen, es herrscht ein Verkehrschaos, weil die Hauptstraße seit Monaten aufgegraben ist. Das Schloß Belvedere und seine Umgebung „färben“ positiv auf die ganze Ortschaft ab. Aufmerksame Besucher entdecken zwei historische Reminiszenzen. Die auffälligere ist das 2017 eröffnete Restaurant „Feldsberg“ (Bild), das allerdings ein für Tschechien nicht untypisches Rätsel bietet: Es ist geschlossen, auf einigen Tafeln findet sich der offensichtlich frisch mit Kreide aufgetragene Hinweis, daß man sich 2025 freuen werde, wieder Gäste zu begrüßen. Und das am 6. März 2025… Die Neugier auf die Inneneinrichtung und die Speisekarte bleibt somit unbefriedigt – und wird vielleicht auch nie mehr gestillt werden können. Erst auf den zweiten Blick entdecken läßt sich auf der mächtigen, zweitürmigen Pfarrkirche die restaurierte lateinische Inschrift „Carolvs Evsebivs Princeps Liechtenstein De Nicolsbvrg Opp et Carnoviae Dvx“, die auf den zweiten Fürsten Karl Eusebius (1611-1684) von Nikolsburg (heute Mikulov) hinweist, der seit 1627 herrschte. Mit „Dux“ ist der Herzogstitel gemeint, Oppavia und Carnovia sind die lateinischen Namen von Troppau (heute Opava) und Jägerndorf (heute Krnov).
Will man mit Blick auf die Kirche zu Mittag essen, hat man zwei Möglichkeiten, nämlich eine Dönerstube und eine Pizzeria. In letzterer ist die junge Kellnerin zu den Gästen ausgesprochen freundlich – sofern sie Tschechisch sprechen. Den reiferen Radfahrern aus Österreich, die einen Kaffee bestellen und sich in Deutsch und gebrochenem Englisch nach einer Mehlspeise erkundigen wollen, wird sogleich strikt beschieden, daß hier nur Tschechisch gilt. Es braucht eine Intervention vom Nebentisch, damit die Rastenden zu ihrer Mascarpone kommen. Glücklicherweise ist mein alter, 1999 verstorbener Freund Erich Kippes, der Sohn des letzten deutschen Bürgermeisters von Feldsberg und Buchautor zur Stadt, nicht dabei; er wäre mit dem Fräulein „Schlitten gefahren“ – auf Tschechisch.
Feldsberg ist mit Eisgrub durch eine schnurgerade, 7 km lange Allee verbunden. Nicht wenige der Baumriesen sind hohl oder teilweise eingefallen. Während der Wochenenden in der Hauptsaison bevölkern Touristenmassen Eisgrub. Will man eine deutschsprachige Führung, wie z. B. für eine Reisegruppe der ÖLM im Herbst 2023, so muß man lange im Voraus buchen. Die junge blonde Führerin steht im kurzen rosa Nachthemd vor der Gruppe und erklärt, sie habe sich für diese „wie früher üblich“ gekleidet. Eine Frage nach dem Jahr 1945 wird sofort abgeblockt: „Das ist Politik!“ . Ich muß wieder an Erich denken…