von Timo Hahsen
Wenn man das imposante Bahnhofsgebäude der Stadt verläßt, findet man auf dem Granitboden davor drei schmiedeeiserne Tafeln: Lviv oder auch Lwiw (geschrieben mit ukrainisch-kyrillischen Buchstaben; der ukrainische Name der Stadt), Lwòw (der polnische Name der Stadt) und Lemberg. Eine Stadt mit drei Namen also, wobei Lviv/Lwiw mittlerweile wohl am gebräuchlichsten ist – selbst im deutschsprachigen Wikipedia-Artikel wird sie als Lwiw geführt. Wir wollen sie aber trotzdem weiter Lemberg nennen, da sie selbst von deutschsprachigen Ukrainern meistens so bezeichnet wird. Diese Tafeln geben auch einen Hinweis auf die drei Kulturen, die diese Stadt über die Jahrhunderte bestimmt haben: die Ukrainer/Rurikiden, die Polen und die deutschen Habsburger. Der Legende nach geht der Name der Stadt auf den Gründer Danylo Halytzky (Daniel von Galizien) zurück, der hier um 1256 eine Burg für seinen Sohn Lew (Leo I. von Galizien) errichten ließ. Das Wappen der Stadt zeigt deshalb auch einen Löwen (Lew/Lev, altslawisch für Löwe).
Vom Bahnhof gelangt man, wenn man gut zu Fuß ist, nach einem Spaziergang von etwa vierzig Minuten zum Marktplatz, dem Rynok, dem Zentrum der Stadt. Oder man ist bequem und nimmt die Straßenbahn oder ein Taxi. Und wer bequem und geizig ist, keine Probleme mit körperlicher Nähe hat und über ein Minimum an ukrainischen oder russischen Sprachkenntnissen verfügt, der nimmt ein Marschrutka, ein Sammeltaxi/einen Sammelbus, wie er noch überall in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion verbreitet ist.
Lemberg ist eine wunderschöne, an Krakau oder Prag erinnernde Stadt. Davon zeugen allein die gut erhaltene Altstadt mit dem Marktplatz und dem Rathaus in der Mitte und ihren engen Gäßchen, das Palais Potocki, die Sankt-Georgs-Kathedrale und die vielen anderen schönen Kirchen, sowie die Parks, die das Stadtzentrum umgeben. Das glanzvolle Gebäude der Oper ähnelt sehr der Opera Garnier in Paris.
Lemberg ist eine sehr lebendige Stadt – auch heute, in Zeiten des Krieges.
Oder vielleicht sogar gerade deshalb. Denn Lemberg, nur eine knappe Autostunde von der polnischen Grenze entfernt, ist neben den Städten der Karpatenukraine noch eine der sichersten Städte in der Ukraine. Natürlich sind auch hier die Zeichen des Krieges unübersehbar: zahlreiche Plakate in der Stadt, die an gefallene Soldaten erinnern, östlich der Altstadt wächst auf dem Lytschakiwski-Friedhof das Kriegsgräberfeld unaufhörlich, mit Sandsäcken und anderweitig gesicherte Regierungsgebäude, viele Menschen in Uniform, Denkmäler in teilweiser Schutzummantelung, und ja, es gibt gelegentlich auch Luftalarm, der beim ersten Mal ein doch recht mulmiges Gefühl aufkommen läßt. Aber bisher ist die Stadt, zumindest das Zentrum, weitestgehend vom Krieg verschont geblieben.
Und deshalb herrscht vor allem abends eine sehr entspannte, fast heitere Stimmung. In den Gassen rund um den Rynok und auf dem langgezogenen Platz vor der Oper, der Freiheitsallee (Prospekt Swoboda) wird fast zu jeder Jahreszeit und bei fast jedem Wetter von jungen Leuten musiziert und fröhlich mitgesungen. Die Bars und Restaurants sind meist gut besucht, die Oper und die Theater spielen, wobei die Vorstellungen bei Luftalarm unter- oder abgebrochen werden. Die größte Gefahr scheint fast, daß man sich bei Anbruch der Sperrstunde um 23 Uhr – von Mitternacht bis fünf Uhr herrscht kriegsbedingt Ausgangssperre – beim nach Hause gehen auf dem Kopfsteinpflaster der Altstadt die Haxen bricht.
Lemberg hat offiziell etwas mehr als 700.000 Einwohner, also deutlich mehr als Graz und Linz zusammen. Es wird aber vermutet, daß sich derzeit durch die zahlreichen Binnenflüchtlinge in und um Lemberg mehr als eine Million Menschen dort aufhalten. Das spürt man vor allem in den öffentlichen Verkehrsmitteln, den Straßenbahnen und Bussen der Stadt – meist sind sie übervoll. Zusätzlich zu den ständigen Bewohnern der Stadt, den Binnenflüchtlingen und den innerukrainischen Touristen sieht man auch internationale Besucher in der Stadt; z.B. Polen, die kurz über die Grenze schauen, um das Denkmal von Adam Mickiewicz zu bewundern und um abends das gute heimische Bier zu genießen, oder internationale Journalisten, die in Lemberg die Basis für ihre Ukraineberichterstattung haben, sonstige Touristen und nicht wenige Menschen aus aller Welt, die als Freiwillige bei zahlreichen Projekten mitarbeiten, um der Ukraine im Krieg beizustehen.
Kollektives Basteln von Grubenkerzen und Amateurdrohnen
Es gibt in Lemberg viele Küchen, in denen Essensportionen für Soldaten, aber auch für die noch verbliebenen Bewohner in Frontnähe und für Binnenflüchtlinge zubereitet werden. An anderen Stellen nähen Freiwillige Tarnnetze, oder sie befüllen alte Konservendosen mit Karton und Paraffin, die dann als Grubenkerzen an der Front genutzt werden. Andere wiederum basteln Amateurdrohnen. Viele dieser Projekte gibt es schon seit 2014, also seit Ausbruch der Konflikte im Donbaß. Sie sind meist aus Privatinitiative entstanden und werden hauptsächlich von Pensionisten getragen. Und dabei werden diese immer wieder von Schüler- und Studentengruppen sowie vor allem von den internationalen Freiwilligen unterstützt.
Viele dieser Freiwilligen kommen aus englischsprachigen Ländern, aber es sind auch zahlreiche Deutsche, Skandinavier, Franzosen, Tschechen, Italiener, Griechen, Niederländer, Südamerikaner, Taiwanesen, Japaner etc. darunter. Die meisten von ihnen bleiben nur für ein paar Wochen, aber es gibt auch einen harten Kern, der sich in Lemberg auf längere Zeit niedergelassen hat. Es sind meist „digital nomads“, Menschen, die mit ihrem Laptop von überall auf der Welt arbeiten können. Andere sind schon pensioniert oder haben eine Pause von der Arbeit genommen. Für Menschen aus dem Westen – und der Westen beginnt in diesem Sinne direkt hinter der ukrainischen Grenze zu Polen, der Slowakei oder nach Ungarn – ist Lemberg eine sehr, sehr günstige Stadt, das Bier für umgerechnet einen Euro, ein Essen in einem guten Restaurant für acht bis zehn Euro. Für Ukrainer allerdings ist es die teuerste Stadt in ihrem Land.
Eine Stadt, in der man Franz Joseph noch immer schätzt und sein Habsburgererbe nicht verleugnet
An der Slobody Avenue, der Freiheitsavenue schräg hinter dem Monument für Taras Schewtschenko, liegt das Wiener Kaffeehaus. Dort kann man zwar leider keine Melange bestellen, sondern nur einen Cappuccino, und es gibt nur freundliche Kellerinnen, statt grantige Ober, aber dafür kann die Tortenauswahl locker mit der im Café Korb, dem Café Schwarzenberg oder im Café Ritter zu Wien mithalten. In der Serbska-Straße steht die Statue von Leopold von Sacher-Masoch vor dem Café Masoch und einem Geschäft, in dem man so allerlei kaufen kann, was man mit dem Namen in Verbindung bringt – allerdings keine Sachertorten … In der Lemberger Kaffeemine, auf English Lviv Coffee Mine, einem riesigen Kaffeehausrestaurant mit Innenhof, Souvenirladen und unterirdischem Kaffeemuseum, befindet sich in einer Ecke sogar ein kleiner Altar zu Ehren Franz Josephs. Dann gibt es noch das Fixage Café in der Kniaza Romana Straße, an dessen Wänden überall Fotoapparate hängen und mittendrin ein Portrait des Kaiserpaares: Sisi und Franzl. Auch Joseph Roth, den jüdischen Schriftsteller, der in Lemberg Germanistik studierte, hat man hier nicht vergessen; in der Tschechowstraße etwas abseits des Zentrums hängt eine Gedenktafel an dem Haus, in dem er damals wohnte.
Im „Museum über Totalitarismus und Terror“ gleich hinter den Bahngleisen nördlich des Zentrums, in dem die Schrecken, die vielen Umbrüche in der Geschichte der Stadt dokumentiert werden, findet sich an einer Stelle dieser interessante Satz über die Zeit, als die Habsburger die Stadt beherrschten: „Die verschiedenen Nationen und Religionen lebten in der Stadt friedlich nebeneinander“. Und das ist etwas, das man dieser Stadt und dem Land insgesamt auch heute wieder wünschen möchte.