von Caroline Sommerfeld
Wo bin ich? Hier lag einst die Schoberstange.
Und schüttelnd die Mähne auf Leine und Kummet
Graste die Stute am wiesigen Hange.
Denn Mittag war’s. Bei Steintopf und Krug
Ruhten die Mäher müde im Grummet.
In seinem streckenweise urkomischen Buch Wie man schlecht schreibt. Die Kunst des stilistischen Missgriffs hat Stefan aus dem Siepen dieses Gedicht des deutschen Lyrikers Peter Huchel (1903–1981) vorgestellt. Er diagnostiziert dem Verfasser eine „milde Form von Autoren-Autismus“ und erklärt diese liebevoll folgendermaßen:
Huchel war nicht nur ein großer Lyriker, sondern er stammte auch vom flachen Land. Seine Heimat war die brandenburgische Provinz, er wuchs in die bäuerliche Welt und ihre Sprache hinein, daher wusste er zum Beispiel, was eine „Schoberstange“ ist und der Unterschied zwischen einem „Grummet“ und einem „Kummet“ war ihm ebenfalls geläufig.
Aus dem Siepen legt noch ein weiteres Gedicht Huchels nach:
Ich ging durchs Dorf
Und sah das Gewohnte.
Der Schäfer hielt den Widder
Gefesselt zwischen den Knien.
Er schnitt die Klaue
Er teerte die Stoppelhinke.
Und Frauen zählten die Kannen,
Das Tagesgemelk.
Nichts war zu deuten.
„Nichts war zu deuten? Das Wort ‚Tagesgemelk‘ versteht man ohne weiteres, auch wenn man sein gesamtes Leben in der Stadt verbracht hat. Doch was ist die ‚Stoppelhinke‘? Haben wir es mit einem Körperteil des Widders zu tun oder mit einem landwirtschaftlichen Gerät?“, fragt aus dem Siepen amüsiert.
Peter Rosegger (1843–1918) schreibt in Aus meiner Waldheimat: „Mein Vater hatte elf Saatfelder, die wir ‚Kornweiten‘ nannten und wovon wir alljährlich im Herbste ein neues für den Winterroggenbau umackerten, sodaß binnen elf Jahren jeder Acker einmal an die Reihe kam. Ein solcher Jahresbau lieferte beiläufig dreißig Metzen Roggen.“ Hier haben wir einen völlig anderen Fall: Rosegger erklärt erstens seine Verwendung landwirtschaftlicher Begriffe, und zweitens kann man die Maßeinheit „Metze“ ohne Schwierigkeiten nachschlagen. Rosegger verwendet also anders als Huchel nichts Unverständliches als bewußtes Stilmittel. Er sieht sehr wohl den Abstand zwischen sich selbst als Schriftsteller und der geschlossenen Welt seiner Waldheimat, aber seine Prosa wirkt eher berichtend als poetisch-stilisierend.
Rosegger ist in diesem Sinne kein modernistischer Schriftsteller, Huchel sehr wohl. Denn im Modernismus versteht man die poetische Sprache als Vehikel: Ausgesucht „ursprünglich“ wirkende Wörter aus einem fremden, untergegangenen oder sozial geschlossenen Kulturbereich stellen Authentizität her.
Und wie verhält es sich bei diesem Gedicht? Josef Weinheber (1892–1945) beobachtet Im Weinland, so der Titel seines Herbstgedichtes, einiges Merkwürdige:
Und um auf den Leiten
im Laubwerk dick die Beeren.
Die runden, die schweren,
am Steckenspalier.
Mit Weinhüterkeuschen
und Spatzenschreckpopanzen:
Die Blechschnitzel tanzen
im Rankengewirr.
Eine „Keusche“ ist im österreichischen Deutsch ein kleines Bauernhaus, die „Leite“ bezeichnet einen Berghang oder Abhang. Das im oberdeutschen Sprachraum gebräuchliche Wort steht insbesondere für einen recht steilen Berghang, der früher etwa als Weide für Schafe oder Ziegen genutzt wurde.
Indem Weinheber das landschaftliche Sonderwort „Keusche“ mit dem ebenfalls in der Hochsprache unbekannten „Weinhüter“ zusammenfügt, entsteht ein Neologismus, eine Wortneuerfindung. Ein Weinhüter (auch „Weingartenhüter“, „Hiata“, „Wengertschütz“ oder „Wengerter“ genannt) war ein Flurwächter im Weingebirge. Es war seine Aufgabe, Traubendiebstähle zu verhindern und Vögel zu vertreiben. Das Weinbauvokabular inspiriert den Dichter nicht nur zu neuen Fügungen, sondern auch zu freien Erfindungen: Die „Spatzenschreckpopanzen“ sind nirgendwo lexikalisiert, er hat in glücklicher Sonderwortschatzschwelgerei das alte Wort „Popanz“ in seiner ursprünglichen Bedeutung „gebastelte Schreckgestalt“ wiederbelebt. Josef Weinheber gebraucht hier landwirtschaftliche Begriffe weder als modernistisches Stilmittel wie Huchel noch als authentisches Darstellungsmittel wie Rosegger, sondern als Material zur Wortspielerei.
Alle drei Lyriker wissen genau, daß sie einen Sonderwortschatz verwenden, daß dieser dabei ist, in Vergessenheit zu geraten und daß sie riskieren, von späteren Lesergenerationen nicht mehr verstanden zu werden. Und doch können sie nicht anders, als von der „Stoppelhinke“, der „Kornweite“ und der „Weinhüterkeusche“ zu schreiben, um die bäuerliche Welt noch einmal aufblühen zu lassen, bevor sie verwelken muß.