Die Bauern im „Bauernstaat“
von Benedikt Kaiser
Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) verstand sich während ihrer gesamten Existenz (1949–1990) als Arbeiter-und-Bauern-Staat, vereinzelt sprach die überspitzte Propaganda gar vom „Arbeiter-und-Bauern-Paradies“. Das hieß: Die tragenden Säulen der Gesellschaft sollten Proletarier und Landwirte sein und zwar als jene schaffenden Volksklassen, die sich von der Beherrschung durch Industriemagnaten und Großgrundbesitzer emanzipiert hätten. Bereits bei einem der weltanschaulichen Vordenker des DDR-Sozialismus’, Friedrich Engels, hieß es in seiner Schrift Die deutschen Bauernkriege (1870), Arbeiter könnten sich nur befreien, „wenn sie das Kapital der Bourgeoisie, d.h. die Rohprodukte, Maschinen und Werkzeuge und Lebensmittel, welche zur Produktion erforderlich sind, in das Eigentum der Gesellschaft“ verwandeln würden. Dasselbe gelte für den Bauernstand, der aus dem Elend des Feudalismus’ nur ausbrechen könne, wenn der „Hauptarbeitsgegenstand, das Land selbst, dem Privatbesitz der großen Bauern und noch größeren Feudalherren entzogen“ werde, um dann „von Genossenschaften von Landarbeitern für ihre gemeinsame Rechnung bebaut“ zu werden.
Engels und Sowjetrußland als DDR-Vorbilder
Im Rußland des frühen 20. Jh., wo knapp 80 Prozent der Bevölkerung Bauern waren, während die Industriearbeiterschaft – als Kerngruppe des Marxismus’ – nur wenige Prozent der Gesellschaft umfaßte, mußten die marxistischen Kräfte entsprechende Engels-Losungen in ihr Weltbild integrieren, um die große Masse des Volkes ideologisch ansprechen zu können. Das gelang nicht ohne Verrenkungen, galt doch der russische Bauernstand als „reaktionär“ und „passiv“. Man traute den Bauern keine „politisch bewußten Initiativen“ zu, wie Georgi Plechanow meinte. Der „Metavater“ des russischen Marxismus’ traf den Punkt: Die russische Landbevölkerung könne sich die sozialistische Weltsicht schwerlich aneignen, da ihre Lebensverhältnisse gänzlich anders aussähen als jene derer, die den Marxismus als Vehikel zur „Befreiung“ der Volksklassen erdacht hätten. Es waren daher zunächst andere Strömungen wie die Narodniki (Volkstümler) und Dekabristen (Adelsrevolutionäre), die sich verschiedenartig um die Bauern sorgten und sie agitierten.
Erst Lenin sorgte für eine Zäsur: Während der Revolution von 1905/06 sprach der theoretische Praktiker von der „Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“. Zwar traute Lenin wie sein Vorgänger Plechanow den Bauern keine selbständige revolutionäre Erhebung zu, doch unter Anleitung der Avantgarde der Arbeiterklasse sei dies möglich. Dafür korrigierte Lenin über Jahre hinweg Teile seines Programms und konnte zehntausende Bauern im Kriegs- und Umbruchsjahr 1917 davon überzeugen, auf die Bolschewiki zu setzen. Das war jedoch bei weitem nicht die Mehrheit des Bauernstandes, die weiterhin überproportional den Sozialrevolutionären bzw. Narodniki die Treue hielt, bevor diese Akteure im Bürgerkrieg vollständig zerrieben wurden.
Nach der Oktoberrevolution 1917 und dem Sieg im Bürgerkrieg war die Bauernpolitik der Bolschewiki und ihrer neu gegründeten Sowjetunion widersprüchlich: mal zwanghafte Gemeinwirtschaft, mal „Neue ökonomische Politik“ mit Spielräumen für Kleinbauern, dann aber wiederum Stalins Machtantritt und die brutale Kollektivierung mit Hungersnöten und Millionen Toten als Folge.
Enteignung, Neuverteilung, Verstaatlichung
Diese Vorgeschichte über die Eckpunkte Engels–Lenin–Stalin in Erinnerung zu rufen, ist elementar für das Verständnis der DDR-Bauernpolitik: Denn nach dem Zweiten Weltkrieg sah sich die SED-Regierung mit dem Umstand konfrontiert, daß der eigene Bauernstand einerseits vom „großen Bruder“ nicht viel lernen wollte, denn Zwangskollektivierung war wenig attraktiv. Andererseits wollte – und mußte! – man ideologisch dem Vorbild Sowjetunion folgen. Daraus resultierten von vornherein nicht lösbare Herausforderungen für die DDR, die gleichwohl – Engels rezipierend, die Sowjetunion nachahmend – den Sozialismus für realisierbar hielt, sofern sich die Bauern der Arbeiterklasse anschlössen. Dafür enteignete man die Adelsreste und Großgrundbesitzer, gründete in der frühen DDR ca. 2.000 Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPGs) und übergab im Zuge der Bodenreform unzähligen „Neubauern“ ihren eigenen Grund und Boden, bevor dieser wiederum „vergesellschaftet“ wurde: Aus fast 900.000 Kleinbetrieben wurden ca. 20.000 Kollektivbetriebe.
Unter Walter Ulbrichts Herrschaft (bis 1971) gelangen mit dieser Vergemeinschaftung der Bauern „von oben“ dennoch einige Erfolge. So wurde zumindest die Versorgung mit den Grundnahrungsmitteln über die annähernd „vollgenossenschaftlich“ organisierte Landwirtschaft und propagandistische „Ernteschlachten“ sichergestellt. Das konnte aber mit zunehmender DDR-Lebensdauer nicht kaschieren, daß der Spagat, „die alten Produktionsbeziehungen zu zerschlagen, ehe sich neue bilden konnten“, wie es der Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler formulierte, kaum gelang. Unter Erich Honecker (ab 1971) wucherten die bereits vorher bestehenden Probleme der Mangelwirtschaft weiter; zwischen starren Plänen, anonymisierten Großgenossenschaften und Fehlentscheidungen in der Schwerpunktlegung war zu wenig Platz für Innovationen seitens der Bauern.
Großkolchosen und Parallelwelten
Die Bauern fremdelten übrigens während der gesamten DDR-Geschichte überproportional mit der „Arbeiter-und-Bauern“-Regierung. Lenins alter Verdacht, wonach Landwirte im Schnitt zu „konservativ“ und „schollenverbunden“ seien, was zu einer Kleineigentümergesinnung passe, nicht aber zu einem Programm der Führung durch die Arbeiterklasse, sah sich viele Jahrzehnte nach Lenins Ableben (1924) erneut bestätigt: Schon 1953 beim Volksaufstand in der DDR waren Bauern auf den Dörfern die treibende Kraft des Widerstandes gegen die installierte SED-Herrschaft. Jährlich stimmten zudem tausende Landwirte gegen „ihre“ Regierung mit den Füßen ab: Sie verließen die „Zone“ in Richtung BRD, was erst 1961 mit dem Mauerbau eingedämmt werden konnte. Als Honecker dann in den 1970er- und 1980er-Jahren die bereits erwähnten 20.000 Kollektivbetriebe weiter konzentrierte und auf ca. 4.000 reduzierte, um den Riesenkolchosen der Sowjetunion nachzueifern, verschärfte das die ökonomische Insuffizienz und entfremdete den Großteil der Bauernschaft endgültig vom Regime. Auch deshalb entstand in vielen Dörfern der DDR eine Parallelwelt: Offiziell arbeitete man routiniert die staatlichen Pflichtpläne ab, inoffiziell erarbeitete man hernach Überschüsse für den vertrauensvollen privaten Warenhandel vor Ort. Ein Paradies sieht wohl anders aus.