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Im Schützenverein – Patronen, Pulverdampf und Patrioten

von Michael Paul

Hans-Peter rührt Milch in seinen Kaffee. Eine dünne Brühe – im Vereinsheim gibt es nur eine Filtermaschine, und das Pulver kaufen sie im Angebot. Früher gab es auch mal einen Schuß Weinbrand in die Tasse, aber heute sind die Kontrollen viel strenger. Der Flachbau preßt sich an einen bewaldeten Hügel. Links und rechts grenzen Felder und Weiden an. Abgeschieden ist die Lage aus gutem Grund – denn nach hinten hinaus fügen sich offene Schießstände an das Gebäude. Im Inneren ist die Zeit stehen geblieben, Hans-Peters Blick schweift über vergilbte Fotos an der dunkel vertäfelten Wand. Sie reihen sich an Schützenteller, Pokale, hölzerne Königsscheiben mit aufgemalten Adlern und Rehböcken. Der Schützenverein in der bundesdeutschen Provinz ist stolz auf seine hundertjährige Geschichte.

Heute ist mit dem Traditionsgebaren kaum noch ein Staat zu machen.

Dabei hat sich das Schützenwesen wie das Vereinsleben stark verändert – der musealen Konservierung zum Trotz. Mit Argwohn beäugt Hans-Peter die halbautomatischen Gewehre im „Black-Rifle“-Stil, die sich bei der jungen Schützengeneration so großer Beliebtheit erfreuen. Sie sind optisch kaum von modernen, militärischen Sturm- und Scharfschützengewehren zu unterscheiden. Früher haben sie alle noch mit Karabinern aus dem Zweiten Weltkrieg geschossen – unzerstörbare Prügel aus Holz und Stahl ohne schwarzes Plastik. Aber die Zeiten ändern sich eben, seufzt Hans-Peter. Heute ist mit dem Traditionsgebaren, mit grünen Uniformen und Lodenhüten kaum noch ein Staat zu machen. Das Bild vom Sportschützen hat sich in weiten Teilen deutlich gewandelt. Geselliges Brauchtum, Folklore und auch zünftiges Feiern rücken in den Hintergrund. Dafür übernimmt ein neuer, professionellerer Typus. Hochleistungssportler mit sündhaft teuren Geräten. Dynamische Schießdisziplinen in großen Kalibern geben zunehmend den Ton an. Die Luftgewehrabteilung ist längst verwaist. Mit Wehmut denkt Hans-Peter an die Tage zurück, als der gesamte Verein noch uniformiert durch die Straßen paradierte, als das Königsschießen noch den Höhepunkt des Jahres darstellte und als solche Weihen maßgeblich über den sozialen Rang eines Mannes entschieden. In Teilen Norddeutschlands, insbesondere in der Gegend um Hannover, ist dieses Brauchtum bis heute lebendig und genießt dort einen ähnlichen gesellschaftlichen Stellenwert, wie der Karneval im Rheinland. Aber insgesamt tritt der Folklorist zunehmend hinter den ambitionierten Schießsportler in den Schatten.

Mit der Armbrust fing alles an …

Die Geschichte des deutschen Schützenwesens reicht weit zurück. Bereits im 12. Jh. weisen Chroniken unter anderem der Stadt Düsseldorf auf die Existenz von Schützengilden hin. Mit der Entwicklung der Armbrust hatte sich die Kriegsführung im Hochmittelalter fundamental verändert. Auf einmal war es einfachen Bürgern möglich, mit überschaubarer Ausbildung gegen schwer gepanzerte, professionelle Soldaten und Ritter anzukommen. Die Armbrust sorgte gewissermaßen für eine Demokratisierung des Schlachtfeldes. Insbesondere in den Städten entstand nun die Notwendigkeit, die Wehr- und Verteidigungsfähigkeit auf viele Schultern zu verteilen und sich nicht mehr ausschließlich auf Berufssoldaten zu verlassen. Städte genossen Freiheiten und Vorrechte, die zu Wohlstand führten, was wiederum in Begehrlichkeiten resultieren konnte. Der freie Bürger war verpflichtet, sich am Schutz seiner Stadt zu beteiligen. Die im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Waffen leicht zu bedienende Armbrust bot dazu das geeignete Instrument. Später übernahmen erste Feuerwaffen wie Musketen und Arkebusen diese Funktion.

Diese freien Bürgerschützen begannen, sich in Gilden, Bruderschaften und Vereinen zu organisieren, um den Umgang mit den Waffen zu trainieren und sich Verteidigungstechniken anzueignen. Rasch entfalteten diese Zusammenschlüsse zusätzlich eine soziale Funktion. Häufig gaben sich die Vereine das Patronat eines Schutzheiligen – etwa des Heiligen Sebastians. So entwickelten sich im Verlauf des Spätmittelalters religiöse Strukturen, und die Schützenvereine übernahmen ergänzend zu ihrer ursprünglichen Mission karitative Aufgaben.

Hochblüte des deutschen Schützenwesens in der Renaissance

Schützenvereine etablierten sich als zentrale soziale Institutionen in nahezu allen Städten. Sie wiesen differenzierte Strukturen und Organisationsformen auf. Die Vereine begannen, regelmäßig Schießwettbewerbe auszurichten, bei denen die Mitglieder ihr Können unter Beweis stellten. Um diese Wettbewerbe herum entwickelte sich eine lebhafte Festkultur mit Paraden, religiösen ebenso wie zünftigen Feierlichkeiten. Man erwarb oder errichtete Schützenhäuser als Konstanten für das Vereinsleben und den Übungsbetrieb. Dabei trat die militärische Komponente keineswegs in den Hintergrund. Im Gegenteil – gerade in der kriegerischen Epoche des 15. bis 17. Jh., die im Dreißigjährigen Krieg gipfelte, waren die städtischen Bürgerschützen häufig in der Pflicht, Angriffe abzuwehren sowie Leib und Leben der Bewohner zu verteidigen. Während der Aufklärung und unter den Repressionen der napoleonischen Besatzung verzeichnete das deutsche Schützenwesen im späten 18. und frühen 19. Jh. zumindest in einigen Regionen einen deutlichen Rückgang.

Schützenvereine waren ein Hort des preußisch-reichsdeutschen Nationalbewußtseins.

Mit der Entstehung des deutschen Nationalstaates und der damit einhergehenden Militarisierung der Gesellschaft blühte die Schützenkultur wieder auf. Die Mitgliedschaft war Ausdruck von Gemeinschaftsgefühl und Patriotismus. Nach den beiden Weltkriegen verlor das Schützenwesen in der jungen Bundesrepublik endgültig seine militärische Komponente. Schützenvereine waren keine Milizen mehr, sondern dienten ausschließlich der gesellschaftlichen Entfaltung und dem sportlichen Streben. Die Vereine organisierten sich in großen Dachverbänden, die den Schießsport in der Breite förderten und zugleich minutiös regulierten. Nationale und internationale Wettbewerbe bis zur Ebene der olympischen Spiele rückten in das Blickfeld der Schießbegeisterten. Schützenfeste waren noch lange flächendekkend Kulminationspunkte des sozialen Lebens mit Musik, Trachtenumzügen, Jahrmärkten und vielen tausend Besuchern. Alleine im Deutschen Schützenbund, dem größten Dachverband seiner Art, sind gegenwärtig rund 1,3 Millionen Mitglieder organisiert, die sich auf über 14.000 Vereine verteilen.

Interne Querelen hin oder her – gegen die Verschärfung des Waffenrechtes stehen alle vereint.

Routiniert klopft Hans-Peter seine abgewetzte Pfeife aus, stochert die letzten abgebrannten Tabakkrümel aus dem Kopf. Er schüttelt die wehmütige Erinnerung von sich. Früher ist nunmal rum! Näch­ste Woche ist Jahreshauptversammlung, da wird er sich auf jeden Fall beschweren, daß der Vorstand die Ladungsfrist nicht eingehalten habe. Wir sind ja nicht bei den Hottentotten, denkt er sich. An Vorschriften hat man sich gefälligst zu halten, ist er überzeugt. Einmal hatten sie so einen Streit im Verein, daß sogar ein Fachanwalt für Vereinsrecht eingeschaltet werden mußte. Der hatte gleich mal die komplette Satzung auf den Kopf gestellt, und der Vorsitzende mußte dann zum Amtsgericht, um im Vereinsregister eine neue Satzung eintragen zu lassen. Ja – Ordnung muß schon sein, denkt Hans-Peter zufrieden. Mit einem Ächzen macht er sich auf den Weg zum Schießstand, den nur eine Tür vom Thekenraum trennt.
Draußen ist geschäftiges Treiben. Im Sekundentakt hallen die Schüsse; manchmal dumpf, manchmal peitschend hoch – je nach Kaliber. Hans-Peter nestelt seinen Gehörschutz zurecht, allzu gut ist sein Hörvermögen mit Mitte siebzig ohnehin nicht mehr. Heute hat er den Schwedenmauser M/96 eingepackt, Kaliber 6,5 × 55. Die Repetierbüchse ist älter als er. Aber unverwüstlich und zuverlässig. Nicht so ein schwarzes Plastikding. Bei einer Sache ist Hans-Peter allerdings absolut einig mit diesen modernen Ballermännern: Daß sie überhaupt noch Waffen besitzen dürfen, das gilt es um jeden Preis zu bewahren. Mal um Mal haben Sozis und Grüne in der BRD das Waffenrecht verschärft, mit Auflagen ohne Ende, absurden Aufbewahrungspflichten, jederzeit unangekündigten Kontrollen. Würde sich dieser Staat mal so um islamische Terroristen kümmern, ärgert sich Hans-Peter. Aber nein – die unbescholtenen Sportschützen und Jäger, die stehen voll im Fadenkreuz. Die Agenda der linksgrünen Weltverbesserer kennt er natürlich genau – keine Waffe mehr in Bürgerhand. Nichts ist einem Regime schließlich ein größerer Dorn im Auge als ein souveräner und wehrfähiger Bürger …

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