von Benedikt Kaiser
Kaisers Zone (22)
Sahra Wagenknecht ist das Talkshowgesicht der Linkspartei in der Bundesrepublik Deutschland. Wenn sie einen ihrer Auftritte im bundesdeutschen Fernsehen absolviert, polarisiert sie. Meist gibt es bei den Konsumenten nur die Alternativen leidenschaftliche Zustimmung oder schroffe Ablehnung.
Der einstigen „Stalinistin“, die in der DDR Repressionen erdulden mußte, weil sie den Honecker-Kurs von links kritisierte, mit Bezugnahmen auf Ideen von Walter Ulbricht bis Peter Hacks, geht es auch in der eigenen Partei so. Ein Teil von dieser, die absolute Mehrheit, lehnt Wagenknecht ab. Zu migrationskritisch, zu wenig klimaideologisch, zu wenig parteiprogrammatisch sattelfest sei sie, zu eitel, zu egomanisch. Ein anderer Teil, eine lautstarke Minderheit, verteidigt Wagenknecht und ihre Kritik an der „Lifestyle-Linken“, die sich nur um urbane, „woke“ (d.h. politisch hyperkorrekte) Sonderthemen privilegierter akademischer Linker kümmere und die Interessen der arbeitenden Schichten vernachlässige.
Lange konnte der Konflikt zwischen „linkskonservativ“-materialistischer Wagenknecht-Minderheit und „progressiv“-linksliberaler Mehrheit eingedämmt werden – über eine Interessenskongruenz, die so aussieht: Die Linkspartei verfügt über 39 Mandate im Bundestag. Würden Wagenknecht und ihr gutes Dutzend Getreuer aus der Fraktion austreten, wäre man unter der Mindestanforderung von 36 Abgeordneten, die nötig sind, um in Berlin eine Fraktion – mit allen Rechten und Möglichkeiten, mit allen Geldern und Mitarbeiterstäben – unterhalten zu dürfen. Im Klartext: Geht Wagenknecht, ist die Linksfraktion Geschichte. Die Folge sind nicht nur Arbeitslosigkeit für den Stab und Einflußlosigkeit im Bundestag, sondern auch eine Fortsetzung des Zerfalls in den wenigen verbliebenen Landtagen, wo dann ähnliche Schicksale drohen. Selbst das organisierende und orientierende Zentrum der gesamten Mosaiklinken in der BRD, die millionenschwere parteinahe Rosa-Luxemburg-Stiftung, stünde perspektivisch vor dem Aus.
Daß dies geschehen wird, ist im August 2023 keine Frage des „ob“, sondern nur mehr des „wann“. Wagenknecht lechzt nach den Umfragewerten, die Woche für Woche ermittelt werden. Vor allem im Osten der Bundesrepublik dürfte sie mit Erfolgen rechnen. Eine Erhebung des Magazins Der Spiegel ergab: 49 Prozent der Befragten zeigen sich dort offen für die Wahl der zu gründenden Wagenknecht-Partei, im Westen sind es „nur“ 24 Prozent. Nun ist eine Äußerung, man sei offen für eine bestimmte neue Kraft, noch keine Wahlentscheidung. Aber das große Potential für Sahra Wagenknecht im Osten ist real: Sie füllt Marktplätze und Säle, Autogrammjäger stehen Schlange. Schon spotten ihre innerlinken Gegner, in Anlehnung an die staatskritische Formel Karl Marx’ vom „ideellen Gesamtkapitalisten“, sie sei heute die „ideelle Gesamtostdeutsche“ (Mario Möller).
Abseits der Polemik: Ist da etwas dran? Das wird man bejahen müssen. Migrationskritik, soziale Gerechtigkeit, Ausgleich mit Rußland, NATO-Skepsis und Kritik an der grünen Klimareligion: Wagenknechts Themen sind solche, die im „Volk der Ostdeutschen“ (Richard Schröder) wie sonst nirgends auf Interesse stoßen. Das sind freilich zugleich jene Themen, die der AfD zwischen Vogtland und Ostsee ihre bisherige Erfolgsgeschichte bescherten. Ein Zerfall der Linkspartei durch die kommende Wagenknecht-Abspaltung bietet also nicht nur Anlaß zur Freude, sondern auch zur Vorsicht: Da wächst etwas Neues heran.
Über den Autor:
Benedikt Kaiser, Jg. 1987, studierte an der Technischen Universität Chemnitz im Hauptfach Politikwissenschaft. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lektor und Publizist. Kaiser schreibt u.a. für Sezession (BRD), Kommentár (Ungarn) und Tekos (Belgien); für éléments und Nouvelle École (Frankreich) ist er deutscher Korrespondent.