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Heinz Erhardt und die verschlungenen Pfade deutschbaltischer Familien

von Martin Hobek

Estland, Livland und Kurland waren jahrhundertelang, auch nach der russischen Annektion, deutsch beherrscht. Jedes Dorf bestand aus dem Herrensitz einer deutschen Aristokratenfamilie, für die ihre lettischen bäuerlichen Untertanen arbeiteten. Und in den größeren Küstenstädten hatte das deutsche Bürgertum, dominiert von hanseatischen Kaufleuten, die sich in Gilden organisierten, das Sagen.

Nur eine einzige Siedlung im Baltikum war rein deutsch: das im Südosten Livlands gelegene Hirschenhof (lett. Irši). Anstoßgeberin war die russische Kaiserin Katharina II. die Große, ursprünglich eine deutsche Prinzessin. Sie hatte Livland bereist und auch einige Krongüter besichtigt. 1762/63 warb sie im Römisch-Deutschen Reich mit einer langen Liste an garantierten Privilegien um Kolonisten zwecks Urbarmachung. Eine Gemeinschaft von kurpfälzischen Familien, die fünf Jahre lang erfolglos für den dänischen König ihr agrarisches Glück in Jütland und Holstein versucht hatte, folgte der Einladung und traf 1766 in Rußland ein. Dort reagierte die Kaiserin auf die „aus Deutschland ausziehenden Ackersleute“ am 10. Mai 1766 mit einem Schreiben an Generalgouverneur Graf Browne: „Die Einrichtung und Pflanzung aber übertragen wir unserem liefländischen General-Oeconomie-Directeur Stackelberg unter Ihrer Oberdirection.“

Die deutschen Neusiedler in Hirschenhof mußten bald erkennen, daß sie zur Inzucht verdammt waren. Die Deutschen der umliegenden Dörfer gaben sich als Adelige nicht mit Bauern ab, und ansonsten gab es nur lettische Leibeigene. Heinz Erhardts Großvater (Johann) Jacob versuchte daher sein Glück in Livlands Hauptstadt Riga, wo er als jemand, der keiner Gilde angehörte, von unten beginnen mußte. Er schaffte es aber in beeindruckender Weise und wurde nicht nur Gildenvorsitzender, sondern im Ersten Weltkrieg überdies kommissarischer Oberbürgermeister. Heinz’ Onkel Robert brachte es nach dem Umsturz, obwohl Deutscher, zum zweiten Finanzminister der ersten lettischen Republik.

Jacob Erhardt hatte außer Robert nur noch ein Kind, nämlich Gustav, der sich für das Kaufmännische nicht interessierte, sich der Musik zuwandte und schließlich als Kapellmeister reüssierte. Sein Sohn Heinz sollte ihm nachgeraten. Kurz nach dessen Geburt ließen sich die Eltern scheiden. Heinz pendelte 1915-24 zwischen dem Vater in Deutschland, der Mutter in St. Petersburg und den Großeltern in Riga hin und her, was ihn in der Schule scheitern ließ. So heuerte er in der Musikalienhandlung seines Großvaters an. „Anstatt Klaviere zu verkaufen, klimpert er nur auf ihnen herum“, ärgerte sich die Familie.

„Ein harmloser Langweiler, mit Hemmungen über die Hutschnur“

Privat wie beruflich fand das entscheidende Ereignis 1934 statt: eine Fahrt mit einem Aufzug. Heinz Erhardt im Rückblick: „Ich war ein harmloser Langweiler, mit Hemmungen über die Hutschnur. So verschlug´s mir erst einmal die Sprache, als ich knapp fünfundzwanzigjährig im Frühjahr 1934 einen Fahrstuhl betrat und mich urplötzlich einer jungen Dame gegenüber sah, die ein Wagenrad von einem Hut auf dem hübschen Kopf balancierte. Dann aber faßte ich mich und fragte klugerweise ‚Wollen Sie auch nach oben?‘ Wir befanden uns im Parterre. Die junge Dame meinte es jedoch gnädig mit mir. Sie lachte nicht Hohn und sagte schlicht und ergreifend ‚Ja‘. Woraufhin ich zuerst den vierten (für mich) und dann den fünften Knopf (für sie) betätigte. Die Fahrstühle in Riga fuhren seinerzeit glücklicherweise sehr langsam. Das gab mir die Möglichkeit, ein paar Sätze mit der schönen Unbekannten zu wechseln. Als mich der Fahrstuhl im vierten Stock ausspie, wußte ich wenigstens so viel: Die junge Dame hieß Gilda Zanetti, die Sprechstundenhilfe eines Zahnarztes war als Tochter des italienischen Konsuls in St. Petersburg aufgewachsen und lebte nun mit ihrer inzwischen verwitweten Mutter sowie mit ihren drei Geschwistern im fünften Stock eben dieses Hauses…“

Gilda Erhardt schenkte dem größten deutschen Komiker der ersten Nachkriegsjahrzehnte vier Kinder und stand ihm bis zum krankheitsbedingt bitteren Ende zur Seite. Aber sie war auch die größte Bewunderin seines Humors und drängte ihn zu beruflich richtigen Entscheidungen. Die Pointe kommt zum Schluß: Gildas Mutter war eine geborene Baronin von Stackelberg, also eine Nachfahrin jenes Stackelbergs, der die Vorfahren von Heinz Erhardt in Hirschenhof angesiedelt hatte…

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