von Mario Kandil
Kalendarium Kandili (46)
Zu Beginn des Ersten Weltkrieges herrschte in den Staaten, die in ihn eintraten, keineswegs unisono die reine Begeisterung über das, was da anlief – auch nicht im Deutschen Reich. Sicherlich, im Manifest der 93 An die Kulturwelt erhoben im Oktober 1914 Vertreter der deutschen Wissenschaft und Kunst „vor der gesamten Kulturwelt Protest gegen die Lügen und Verleumdungen, mit denen unsere Feinde Deutschlands reine Sache in dem ihm aufgezwungenen schweren Daseinskampfe zu beschmutzen trachten“. Doch in dem „Krieg der Geister“, der dieser Krieg ebenfalls war, gab es auch pazifistische Stimmen. Eine davon war der Aufruf an die Europäer.
Dem Arzt und Physiologen Georg Friedrich Nicolai stand bei Kriegsausbruch eine aussichtsreiche Karriere bevor. Von der Kriegstrunkenheit sowie von dem Manifest der 93 abgestoßen veröffentlichte der 1874 geborene Nicolai, ebenfalls im Oktober 1914, einen eigenen Aufruf. In diesem warnte er deutlich vor den potentiellen Folgen des soeben begonnenen Krieges und sah in ihm den Ausgangspunkt für zukünftige Kriege in Europa. Der gegenwärtige Krieg und die „nationale Leidenschaft“ drohten seiner Meinung nach die „zahlreichen gemeinschaftlichen Bande“ zu zerreißen. Für Nicolai waren die „gebildeten und wohlwollenden Europäer“ verpflichtet gewesen, den „Bruderkrieg“ und mit diesem den bevorstehenden Untergang Europas zu verhindern. Für den Autor des Aufrufs an die Europäer stand es kaum zu erwarten, daß der entfachte kriegerische Konflikt „einen Sieger“ haben werde. Viel wahrscheinlicher werde er „nur Besiegte zurücklassen“. Vor allem habe Nicolai zufolge verhindert werden müssen, daß nach Beendigung des Krieges die Bedingungen des Friedens zu einer Quelle künftiger Kriege würden. Angesichts des Versailler Diktatfriedens ist dieses Postulat des Autors schon fast prophetisch zu nennen.
Da Nicolai an der Universität Berlin auch noch eine pazifistische Vorlesungsreihe initiierte, sah er sich bald nach Graudenz versetzt, um dort zwei Lazarette zu leiten. Daselbst äußerte er sich wiederum kritisch über Krieg und Kriegführung und geriet so immer stärker in Konflikt mit der Obrigkeit. Am Ende stand seine Flucht nach Dänemark (1918), wo er u. a. mit Fridtjof Nansen die Zeitschrift Das werdende Europa herausgab. Erst 1954 betrat der bekannteste ärztliche Pazifist Deutschlands wieder heimischen Boden. Er starb 1964 mit 90 Jahren in Santiago de Chile.
Über den Autor:
Dr. phil. Mario Kandil M.A., geb. 1965, studierte in Aachen Mittlere und Neuere Geschichte, Alte Geschichte und Politische Wissenschaft und promovierte in Hagen. Nach langjähriger Tätigkeit im universitären Bereich und in der Erwachsenenbildung heute freier Historiker und Publizist. Forschungsschwerpunkte: Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons I. sowie der Nationalstaaten, Weltkriege und Kalter Krieg.