Ein Gespräch mit dem Bestsellerautor und Sicherheitsexperten Laurent Obertone
Herr Obertone, Ihnen ist mit La France orange mécanique das Kunststück gelungen, einen nicht politisch korrekten Sachbuchbestseller zu landen. Worum geht es in dem Buch, und wie sind Sie zu den dafür erforderlichen Informationen gekommen?
Es handelte sich um eine Untersuchung des landesweiten Sicherheitsverlustes im öffentlichen Raum – ein Gegenstand, den man in Frankreich schwer thematisieren kann, vor allem, wenn man wie ich den statistisch offenkundigen Zusammenhang mit der Einwanderung anspricht. Um an mein Datenmaterial zu gelangen, habe ich natürlich die Lokalpresse durchforstet; außerdem auf meine Kontakte „an der Front“ zurückgegriffen, in den Reihen der Polizei, Justiz oder Geheimdienste. Und schließlich habe ich veröffentlichte Studien und Daten zum Thema zusammengetragen – und unveröffentlichte, mit Hilfe von Forschern, die häufig Angst haben, ihre Befunde offen auszusprechen.
Ist ein weiteres, sehr erfolgreiches Buch aus Ihrer Feder, der Politthriller Guerilla, hingegen reine Fiktion? Können Sie kurz die Handlung zusammenfassen?
Guerilla ist eine Realfiktion; ein „Zwischenfall“ in einem Problemviertel setzt die Banlieu und dann das ganze Land in Brand. Der überforderte Staat bricht in kurzer Zeit zusammen. Ähnliche Zwischenfälle haben schon stattgefunden, insbesondere 2005, und wir wissen aus den Geheimdiensten, daß sie sich in wesentlich größerem Umfang wiederholen können. Man schätzt die Anzahl der für den Staat „verlorenen“ Viertel, die sich in der Hand von Drogendealern, Clanchefs etc. befinden, auf 1.500.
Die „Banlieu“, insbesondere um Paris, ist inzwischen zu trauriger Berühmtheit gelangt. Bitte erklären Sie die Situation in diesen Problemviertel und die dortigen kriminellen Aktivitäten.
Man kann von Sezessionsgebieten sprechen, wo Personen mit außereuropäischem Migrationshintergrund die Mehrheit stellen. Diese – von der angestammten Bevölkerung verlassenen – Stadtviertel werden von ethnischen Gruppen, einem auf Beihilfen beruhenden Klientelsystem, Drogenhandel, Prostitution, Raub und Schutzgelderpressung geprägt. Gewalt, die für die Täter folgenlos bleibt, ist allgegenwärtig, in Schulen,
Krankenhäusern etc. Zwischen den kriminellen Banden finden blutige Revierkämpfe statt. Unnötig zu erwähnen, daß die Polizei es sich gut überlegt, einen Fuß dorthin zu setzen.
Sie haben in der Vergangenheit wiederholt den „Laxismus“ der Justiz in Frankreich kritisiert. Was ist darunter zu verstehen?
Es ist bekannt, daß nur wenige Kriminelle von der Justiz abgeurteilt werden (ein (!) Vergewaltiger auf 100 angezeigte Vergewaltigungen), und wenn sie bestraft werden, dann nicht im gesetzlich vorgesehenen Ausmaß. Im Falle der Vergewaltigung z.B. lautet die durchschnittliche Verurteilung auf 7,7 Jahre Gefängnis. Das Strafgesetzbuch sieht bis 15 vor. Und vor allem ist der Vollzug der Strafen von großer Laxheit: man muß einen automatischen Strafnachlaß in Abzug bringen, dazu Vollzugsarten, die einen Hausarrest ermöglichen oder das Tragen der Fußfessel oder eine richterliche Nachprüfung – lauter Alternativen zum Gefängnis und letzten Endes zu einer wirklichen Justiz. Was die Kleinkriminalität betrifft, erlebt man geradezu schwindelerregende Straflosigkeit. Nicht selten kommt es vor, daß Delinquenten festgenommen werden, die bereits fünfzig oder sechzig Mal verurteilt wurden! Die Schwere von deren kriminellen Akten wird von der Justiz nicht mehr abgebildet. Und dabei handelt es sich nicht um eine Fehlfunktion, sondern eher um die normale Funktionsweise der Justiz.
Wie hat sich die Sicherheitslage in Frankreich seit Erscheinen der beiden genannten Bücher verändert? Und was waren die Auswirkungen der zahlreichen Attentate in Paris, Nizza etc. auf die allgemeine Sicherheitslage?
Ich hatte gedacht, daß wir einen negativen Höhepunkt erreicht hätten – und mich geirrt. Unter Hollande und Macron verzeichnen die offiziellen Zahlen einen Anstieg bei Körperverletzungen um 50%, bei Mord und Mordversuchen um 110% , bei sexueller Gewalt um 200%. Die Amtszeit von Macron hat insbesondere alle Rekorde hinsichtlich der Gewalt gegen Personen gebrochen. Wenn man die terroristische Komponente hinzufügt, ist die Bilanz katastrophal. Umso mehr, als viele „gewöhnliche“ Terrorakte, viele Messerattacken – in Frankreich zählt man jeden Tag 120 Angriffe mit Messern! – von den Medien psychiatrischen Ursachen zugeordnet werden. Die „vermischten Meldungen“, die von „psychisch instabilen Personen“ sprechen, die mit einem Messer bewaffnet und mit dem Koran ausgerüstet seien bzw. „Allah ist groß“ schrieen, sind Legion.
Polizei, Militär und Geheimdienste in Frankreich wissen natürlich um die Gefahren, die bald oder sogar schon jetzt drohen – öffentlich ausgesprochen wird das von Sicherheitskreisen jedoch kaum. Heuer gab es mit einem offenen Brief vieler Militärs eine Ausnahme. Bitte um Schilderung und Einordnung.
Sie nehmen auf die „tribune des militaires“ Bezug: Offiziere hatten sich entschieden, ihre Zurückhaltung aufzugeben, um die Öffentlichkeit und die öffentlichen Funktionsträger hinsichtlich der dramatischen Lage zu alarmieren – eine Lage, die sie besser kennen, als alle anderen – und hinsichtlich der konkreten Gefahr einer Implosion des Landes. Anstatt sie ernstzunehmen, hat die Regierung getan, was sie immer tut: Sie hat in „Kommunikation“ gemacht. Jeder spürt heute, daß wir auf einem Pulverfaß sitzen und nur noch der Funke fehlt. Aber die Franzosen selbst scheinen es sich nicht eingestehen und dieser Situation nicht ins Auge blicken zu wollen.
Die beiden Präsidentschaftskandidaten der Rechten unterscheiden sich auch hinsichtlich ihrer Einschätzung der künftigen Sicherheitslage: Im Gegensatz zu Le Pen spricht Zemmour z.B. von einer Bürgerkriegsgefahr. Wie denken Sie darüber?
Der Begriff „Bürgerkrieg“ wird der Situation nicht ganz gerecht – ich ziehe „Guerilla“ vor: Jeder für sich allein. Jeder gegen (fast) jeden. Wenn die Staatsgewalt zusammenbricht, wird es keine zwei „Lager“ geben, sondern das gesamte Land wird zu einer Art Fleckenteppich. Die Migrantengemeinden, die Banden, werden sich untereinander nicht zusammenschließen – selbst wenn der Islam da oder dort als Bindeglied fungieren wird. Auch zwischen den Einheimischen gibt es starken Dissens – manche kämpfen für die Einwanderung, für die Öffnung, andere für stabile Grenzen und Identitäten; und zwischen diesen beiden Polen gibt es zahllose Varianten und Formen der Zwietracht.
In Ihren fiktionalen Büchern „kippen“ die Verhältnisse, bricht die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern zusammen; nicht erst seit dem Ukraine-Krieg ist viel vom „Blackout“ die Rede. Sind diese Szenarien wahrscheinlicher geworden? Was halten Sie von „Preppern“,
die sich auf den „Tag X“ vorbereiten?
Fakt ist, daß die Normalbevölkerung extrem von äußerer Hilfe abhängig und domestiziert ist – und auf gar nichts vorbereitet. Die „Prepper“ werden vielleicht ein wenig Vorsprung haben, aber trotzdem vom Lauf der Dinge abhängen. Meiner Meinung nach ist es durchaus von Vorteil, regelmäßig unsere Komfortzone zu evaluieren, unsere Abhängigkeit in technischer und energieversorgungsmäßiger Hinsicht, den tatsächlichen Stand unserer praktischen Fertigkeiten und Anpassungsfähigkeit. Am besten wäre es freilich, die Situation in ihrer ganzen Tragweite zu begreifen, um die kommende Krise rechtzeitig zu entschärfen. Das
erfordert allerdings politischen und intellektuellen Mut; dieses Gut ist allerdings deutlich seltener geworden als Energie.
Aus dem Französischen von Konrad Markward Weiß
Über den Autor:
Laurent Obertone ist ein Pseudonym, das der Autor wegen Morddrohungen gegen seine Familie verwendet. 1984 geboren, studierte er Anthropologie, Geschichte und Journalismus. Michel Houellebecq würdigte Obertone als „großen Polemiker von morgen“. Seine gründlichen Recherchen und fundierte Gesellschaftskritik haben Obertone zum Bestsellerautor und zum Stichwortgeber der Politik gemacht.