von Benedikt Kaiser
Er ist momentan in Ostdeutschland medial nicht zu ignorieren: Ilko-Sascha Kowalczuk. Ob es um Rußland, die Ukraine, die AfD, das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) oder allgemein die Gemütslage der Ostdeutschen im Wandel der Zeit geht – der 1967 geborene Historiker aus dem Ostteil der Bundeshauptstadt schreibt seit Monaten hunderte (!) Artikel, gibt dutzende Interviews, wird in Talk- und Politrunden wie seine Erzrivalin Wagenknecht zum Dauergast und behält immer das letzte Wort.
Wer sich mit dieser Medienfigur beschäftigt, muß zuallererst die beiden Kowalczuks voneinander trennen. Da gibt es den Polemiker auf X (ehemals Twitter) und in seinen Online-Kolumnen, wo Kowalczuk greifbar wird als krawallig-launig auftretender Akteur. Es gibt aber auch den anderen Kowalczuk, den feinsinnigen Historiker, als der er sich in seiner unnachahmlichen DDR-BRD-Anschluß-Geschichte Die Übernahme (München 2019) beweist. Unerreichbar sind im Bereich der DDR- und Kommunismusforschung bereits jetzt seine beiden aktuellen Tausend-Seiten-Wälzer zu jenem Staatsmann, der für den deutschen Klassiker Peter Hacks gar der letzte seiner Art gewesen sei, Walter Ulbricht. In Der deutsche Kommunist (München 2023) entschlüsselt Kowalczuk ohne jede Affirmation, aber mit umso mehr Kenntnissen und Detailwissen Wesen und Gestalt des KPD-Kaders und anschließenden DDR-Mitbegründers. In Der kommunistische Diktator (München 2024) zeigt Kowalczuk die Essenz der Amtszeit Ulbrichts mit ihren Zäsuren (Volksaufstand, Mauerbau, Konsolidierungskrisen etc.) und ihrem Ende auf. Dieses kam 1971 aus dem Apparat selbst: Sogar die Spitzenkräfte der „Stasi“ liefen zu Ulbrichts einstigem Zögling und nachmaligem DDR-Abwickler Erich Honecker über; Ulbricht war politisch und gesundheitlich am Ende. Vorher schufen seine Propagandisten – diesmal vor allem Otto Gottsche, nicht Peter Hacks – übrigens noch eine Agitprop-Floskel, die viel später, reichlich verändert, bei Jörg Haider und anderen beliebt wurde: „Der Feind hat Haß und Hohn gespien, und weil sie ihn hassen, lieben wir ihn!“
Diese lange Vorbemerkung zu seinen Verdiensten als Historiker ist erforderlich, um zu zeigen, daß nicht alles schlecht sei bei Ilko-Sascha Kowalczuk; sein neues Buch Freiheitsschock (München 2024), unmittelbar nach Erscheinen in mehreren Auflagen vorliegend und Bestsellerlisten stürmend, ist es indes schon. Diese Streitschrift folgt nämlich dem eingangs skizzierten Kowalczuk von „X“, nicht dem Erforscher der Archive und der Zeitgeschichte. Er will all den „Ost-Verstehern“ an den Kragen, all den Vertretern einer besonderen ostdeutschen Gemengelage, die wiederum besondere ostdeutsche kulturelle und politische Verhaltensweisen hervorruft. Kowalczuk tritt an, um das zu beenden: Er erträgt die ostdeutsche Identitätspolitik ebensowenig wie deren politische Inanspruchnahme durch AfD und BSW.
Kowalczuks Grundthese ist hierbei so einfach wie folgenschwer zusammenzufassen: Die ehemaligen Bewohner der DDR hätten ab Herbst 1989 einen „Freiheitsschock“ erlitten. Den „Sprung in die Freiheit“ hätte das Gros der Bürger nicht korrekt begriffen als Chance zur Gestaltung eigener Angelegenheiten. Vielmehr wäre allgemeine Überforderung mit der großen Transformation von Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und individuellem Lebensvollzug auf eine manifeste Anspruchshaltung gestoßen. Die Enttäuschung der sozial-materiellen und kulturellen Ansprüche beantworten nun viele Ostdeutsche mit „Ostalgie“, Gemeinschaftssuche und der Wahl von AfD und BSW, die Kowalczuk für „antiwestliche“, „antifreiheitliche“ und „antiamerikanische“ Brüder im Geiste hält, die möglich geworden seien, weil die Sowjets, anders als die amerikanischen „Befreier“, auf eine tiefgreifende „Re-Education“ verzichtet und die Deutschen – horribile dictu – als Deutsche konserviert hätten. Das Resultat: AfD und BSW würden heute im Osten mit potentiell 50-Prozent-plus-X als Querfront „die Prinzipien des Grundgesetzes abschaffen wollen“. Belege hat Kowalczuk – in trauter Eintracht mit all den „Rechtsextremismus“- und BSW-„Experten“ – freilich nicht. Aber er hat Empfindungen und Gefühle, denen er freien Lauf läßt.
In seinem Bemühen, den durchaus unterschiedlich positionierten „Ost-Verstehern“ von Dirk Oschmann und Jenny Erpenbeck über Steffen Mau und Christoph Hein bis Christina Morina und Katja Hoyer (einige bereits Gegenstand von Kaisers Zone) eine explizite Anti-Erzählung entgegenzustellen, poltert er, der eigentlich kluge und eminent gebildete Forscher, durch die Manege des Ressentiments. „Der Osten“ erscheint da durch die DDR-Zeit bis heute zementiert als nationalistisch, engstirnig, undankbar, selbstreferentiell, transformationsmüde, elitenfeindlich, geschichtsrevisionistisch, autoritär, aufgebracht, vor allem aber: als antiukrainisch.
Das ist bei allen Schwarz-Weiß-Denkern so: Wo es ein Düsteres gibt, hier den moskauhörigen unfreien Osten der BRD, muß es ein Helles geben, und das ist für den ukrainestämmigen Ostberliner, der über sich sagt, er verbinde mit seiner ostdeutschen Herkunft nichts, mit seinen ukrainischen Wurzeln aber sehr vieles, eben die freie Ukraine, die ukrainische Krym, dazu natürlich die stolze ukrainische Hauptstadt Kyjiw. An einer Stelle räumt er bemerkenswert offen selbst ein, in seiner Familie einen „privaten Ukraine-Kult“ erlebt zu haben, der ihn „stark prägte“. Man meldet keine Zweifel daran an.
Auf Basis dieses Kults, dieser fetischisierten Varianz der Ukraine-Solidarität des westdeutschen Mainstreams, bewertet er nun retrospektiv „die Ostdeutschen“, sucht nach Gründen, wieso sie in ihrer absoluten Mehrheit lieber für Frieden, Sicherheit und Wohlstand auf ihrem kleinen Flecken Erde eintreten würden als für den Kriegssieg Selenskyjs. Diese falsche Seitenwahl verzeiht Kowalczuk den Ostlern nicht – daher sein Aufwand, im neuen Buch eine ostdeutsche Unfähigkeit zur „Freiheit“ nachweisen zu wollen, wobei „Freiheit“ für Kowalczuk immer heißt: Unterordnung im freien Westen, Auflösung nationaler und identitärer Bindungen, Ich statt Wir, offene Gesellschaft nach Karl Popper als Ideal, Abschaffung „reaktionärer“ und gemeinschaftsstiftender Denkweisen, da diese „ausgrenzend“ wirken würden usw. usf. Man würde gerne erfahren, was Kowalczuk dann vom ukrainischen Nationalismus, von Asow, von „ausgrenzenden“ Methoden im Vorkriegsdonbas wider die russischsprachigen Ukrainer halte. Ist das nicht auch nationalistisch, „Wir“-fördernd, gar „diskriminierend“? Allein, darüber erfährt man nichts.
Dafür dürfen wir als Leser lernen, was Ilko-Sascha Kowalczuk politisch erhofft: Er wünscht sich für Deutschland eine „demokratische, prowestliche, ökologische“ Partei, eine, die die ukrainische Sache zu der ihren macht. Nun, wozu aber all der Aufwand? Robert Habecks und Annalena Baerbocks Grüne stellen dies zweifelsfrei längst dar. Aber: Sie fuhren bei den jüngsten Wahlen in Ostdeutschland eben zwischen 0 und 5 Prozent ein und nicht zwischen 20 und 25 Prozent. Das ist der eigentliche Schock für Kowalczuk. Und derlei verzeiht er „seinen“ Ostdeutschen nicht. Dafür konstruiert er folglich jenen „Freiheitsschock“, der die ostdeutsche Mehrheit entmündigt und undifferenziert als moskaudevote Untergebene erscheinen läßt. Pointierte verdienstvolle Beobachtungen, die das neue Buch im übrigen auch enthält, gehen so unter im westextremen Rausch. Das ist zu bedauern. Vor allem für den Autor selbst. Denn der zornige Kowalczuk der Zuspitzung hat einstweilen über den räsonierenden Historiker gesiegt.
Benedikt Kaiser
Über den Autor:
Benedikt Kaiser, Jg. 1987, studierte an der Technischen Universität Chemnitz im Hauptfach Politikwissenschaft. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lektor und Publizist. Kaiser schreibt u.a. für Sezession (BRD), Kommentár (Ungarn) und Tekos (Belgien); für éléments und Nouvelle École (Frankreich) ist er deutscher Korrespondent.