von Benedikt Kaiser
Eugen Ruge ist nicht irgendwer: Der 1954 in der Sowjetunion geborene Wahlsachse ist der bekannteste und erfolgreichste ostdeutsche Schriftsteller der Gegenwart. Ruge stammt aus einer prominenten Autorenfamilie – sein Vater Wolfgang Ruge (1917–2006) war DDR-Historiker, dessen Urgroßonkel Arnold Ruge (1802–1880) wiederum ein einflußreicher Schriftsteller im deutschen Vormärz, um nur zwei Beispiele zu nennen. Eugen Ruge wurde das Schreiben also „in die Wiege gelegt“ – hier paßt die überstrapazierte Floskel tatsächlich. Seine Romane In Zeiten des abnehmenden Lichts (Reinbek 2011; über seine bewegte Familiengeschichte zwischen Kommunismus und Gulag), Follower (München 2016; über erhebliche Digitalisierungsfolgen), Metropol (München 2019; über Sowjetexilanten unter Stalin) und zuletzt Pompeji (München 2023; über einen Vulkanausbruch und seine schalkhafte Vorgeschichte) seien jedem Leser dieser Kolumne ans Herz gelegt, wobei für den mittel- bzw. ostdeutschen Kontext In Zeiten des abnehmenden Lichts schlechterdings unverzichtbar ist.
Man muß dieses literarische Gewicht Eugen Ruges für Deutschland im allgemeinen und für Ostdeutschland im besonderen vor Augen haben, wenn man seine erstmalige politische Großintervention in ihrer Bedeutung ermessen möchte. Denn Ruge hat Ende November in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) in Form eines ausführlichen Gesprächs Standpunkte eingenommen, die für reichlich Aufsehen und Diskussionen sorgten.
Drei Aspekte interessieren uns aus dem vorliegenden „Zone“- bzw. „Post-Zone“-Blickwinkel besonders. Erstens klärt Ruge seine Haltung zur DDR: Er habe den ostdeutschen Teilstaat nicht gemocht und sei als er dort lebte, im Widerspruch zu ihm gestanden – 1988 flüchtete er gar in den Westen. Später jedoch, d.h. nach dem Anschluß an die BRD, habe er verärgert verfolgt, „mit welcher Häme und mit welcher Bösartigkeit nachträglich über die DDR hergezogen wurde“. Das „Niedermachen“ dauere fort und sei ihm zuwider, ebenso wie die westdeutsche Hegemonie in Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur: „Als ob die Ostdeutschen ein zu erziehendes Volk wären, das man an die westdeutsche Kultur heranführen müßte.“ Damit trifft er nicht nur den Ton der Mehrheit seiner Ostlandsleute, sondern wirft anschließend auch die Eigentumsfrage auf. In Die Konvergenz der Krisen (Dresden 2023) habe ich anhand von Zahlen, Daten und Fakten auf den Ausverkauf zwischen Ostsee und Erzgebirge hingewiesen: Fast alle Eigentumswerte, die „der Osten“ noch hatte, wanderten 1990 ff. in westdeutsche Schatullen. Eugen Ruge fügt dieser objektiven Analyse nun eine subjektive Note bei: Der Leipziger Wohnkomplex, in dem er lebe, verfüge über 36 Wohneinheiten, doch die einzigen ostdeutschen Eigentümer seien er und seine Frau. Alle anderen 35 Immobilien befinden sich in Westbesitz – und das im altehrwürdigen sächsischen Leipzig, im Herzen Ostdeutschlands, 35 Jahre nach dem Mauerfall.
Zweitens geht Eugen Ruge auf die Rolle der AfD ein, die im Osten die stärkste Kraft unter den Parteien ist. Ruge stellt klar, daß er deren Wähler nicht für „Nazis“ halte, sondern für „Leute, die das Gefühl haben, mit dieser Wahl werde ihre Stimme endlich mal hörbar“. Zwar lehne er bestimmte Protagonisten der AfD scharf ab – aber gleichwohl wäre ein Verbot der AfD, das derzeit von CDU bis Linkspartei diskutiert wird, nicht zielführend; dafür wäre die AfD längst zu stark, mit Werten von 20 bis 30 Prozent – Im Osten sind es übrigens längst 30 + x. Verböte man aber die AfD trotzdem, mahnt Ruge, sei „man nicht weit von Brechts Vorschlag: Die Regierung suche sich ein anderes Volk!“ Das wäre ein Tabubruch. Ruge dramatisch: „Wenn man das tut, droht der Bürgerkrieg.“
Drittens problematisiert Eugen Ruge das metapolitische Klima in der Bundesrepublik. Zwar gab es schon immer Herabwürdigungen des politischen Gegners. Doch die Dimension heute sei bedrohlich, es „wird gleich jeder als Nazi verunglimpft“, beanstandet er: „Peter Handke wurde mit Hitler verglichen. Oder nehmen wir Corona, wo jeder niedergemacht wurde, der Zweifel an der Coronapolitik der Regierung hatte.“ Ruge fährt fort, daß er wisse, daß es nicht gesetzlich verboten sei, seine Meinung zu sagen. Gefährlich sei aber die gesellschaftliche Ächtung: „Man wird zur Vorsicht gezwungen, zur Selbstzensur.“ Ruge lehnt eine Gleichsetzung BRD-DDR ab, hebt aber hervor, daß ihn in bestimmter Weise die Vergangenheit einhole: „Gerade dieses Gefühl, daß man geächtet wird, sobald man etwas sagt, das jenseits des Mainstreams ist.“
Trägt man diese drei Schlüsselaspekte aus Eugen Ruges Intervention zusammen – es gäbe noch einiges zu Rußland und der Ukraine zu berichten –, wird deutlich, daß hier einem der Geduldsfaden angesichts der herrschenden Zustände reißt. Ruge gewinnt durch derlei offenherzige Kritik am Gebaren des kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Mainstreams nichts, riskiert aber vieles, beispielsweise fortan als „Ostalgiker“ oder „AfD-Versteher“ abgewertet bzw., wie er monierte, „geächtet“ zu werden. Ruge wird klug genug gewesen sein, dies vor der Freigabe des großen NZZ-Interviews geahnt zu haben. Daß er sich dennoch zu diesem grundlegenden Schritt entschloß, macht deutlich, daß die Verhältnisse in der BRD den Leidensdruck auch unter den erfolgreichsten Köpfen massiv erhöht haben. Es ist daher zu hoffen, daß weitere Koryphäen des (ost)deutschen Geisteslebens fortan wagen, ihre Stimme zu erheben.
Benedikt Kaiser
Über den Autor:
Benedikt Kaiser, Jg. 1987, studierte an der Technischen Universität Chemnitz im Hauptfach Politikwissenschaft. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lektor und Publizist. Kaiser schreibt u.a. für Sezession (BRD), Kommentár (Ungarn) und Tekos (Belgien); für éléments und Nouvelle École (Frankreich) ist er deutscher Korrespondent.