von Erik Lehnert
Der Tod Ernst Jüngers vor 25 Jahren, am 17. Februar 1998, war ein internationales Ereignis. Kaum eine größere Zeitung oder Zeitschrift, die nicht wenig-stens eine kleine Notiz gebracht hätte. Was bei einem Nobelpreisträger oder Bestsellerautor selbstverständlich wäre, muß bei Jünger andere Gründe gehabt haben, denn Jünger war keines von beiden. Aber er war schon zu Lebzeiten eine Legende, was, je mehr er sich der magischen Zahl des 100. Geburtstags näherte, Züge eines förmlichen Jünger-Kults annahm. Selbst das Satire-Magazin Titanic feierte ihn wegen seiner Drogenexperimente auf einem Titelbild als LSD-Gott, zu dem aufzublicken all jene jungen Leute Grund hätten, die sich selbst den bewußtseinserweiternden Mitteln verschrieben hätten – was zu Hochzeiten der „Raves“ nicht wenige gewesen sein dürften.
Jüngers Leben stand wie kein zweites für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Es war diese Aura des Unangepaßten, des Umstrittenen und des Selbständigen, die Jünger schließlich auch in die Popkultur eingehen ließ. Diese Aura hat ihren Ursprung aber nicht in der liberalen Spaßgesellschaft, die sich früher oder später alles zu eigen macht, sondern im Leben Jüngers selbst, das wie kein zweites für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts stand, die der Schriftsteller nicht nur durchlitten, sondern vor allem kommentiert hatte. Er war nicht nur dabei, sondern bei entscheidenden Weichenstellungen aktiv am Geschehen beteiligt. So wurde Jünger, je älter er wurde, irgendwann auch zu einer Erinnerung daran, was Deutschland vor Schuldkult, Westbindung und Konsum einmal gewesen war: ein Feld, auf dem es um alles ging. Diesem Faszinosum können sich nur wenige entziehen, selbst wenn sie politisch ganz woanders stehen.
Jünger, am 29. März 1895 in Heidelberg als ältestes Kind in gutbürgerliche Verhältnisse hineingeboren, gehörte zu den Freiwilligen des Augusts 1914. Der Kriegsausbruch kam seinem abenteuerlustigen Wesen entgegen, aber der Krieg, in den er kam, war ganz anders als gedacht. Die Materialschlachten und der Stellungskrieg ließen wenig Platz für persönliches Heldentum. Am ehe-sten gab es dieses noch bei der Fliegertruppe, aber Jünger mußte sich als Infanterist bewähren, was ihm glänzend gelang: Nach zwölf Verwundungen und unzähligen Stoßtruppunternehmungen erhielt er 1918 die höchste preußische Tapferkeitsauszeichnung, den Orden Pour le Mérite, der im gesamten Ersten Weltkrieg mit seinen Millionen Teilnehmern auf deutscher Seite nur 687 mal verliehen wurde. Ein Kriegsheld also, der es in die Annalen der preußischen Kriegsgeschichte geschafft hatte.
Entscheidend ist aber, daß Jünger durch den Krieg zum Autor wurde. Denn nicht der Kriegsheld ist noch heute Gegenstand der Diskussionen, sondern der Deuter des Krieges. Aus seinem Tagebuch formte er sein bis heute bekanntestes Buch In Stahlgewittern (1920), das bis heute als eindringlichste und ehrlichste Darstellung des Geschehens an der Westfront gilt. Zum Erlebnisbericht trat die Sinndeutung des Krieges, denn der Sinn des Krieges war durch die Niederlage von 1918 verdunkelt. Die Opfer und das Leid mußten angesichts dessen sinnlos erscheinen; jedoch nur für denjenigen, der alles am Erfolg zu messen gewohnt war. Für Jünger beschränkt sich der Krieg nicht auf die Frage von Sieg oder Niederlage, sondern er sieht in dem Erlebnis selbst die Wurzel zu einer anderen Weltanschauung, die den Herausforderungen der Zukunft eher gewachsen ist als die Selbstgefälligkeit der Sieger.
Offizier, Schriftsteller, konservativer Revolutionär
Jüngers Weg führt daher in die Politik, in der er dem soldatischen Nationalismus zur Geltung verhelfen will. Er ist, nachdem er 1923 seinen Abschied von der Reichswehr genommen hat, Teil dessen, was man seit Armin Mohler die Konservative Revolution nennt. Jünger publiziert in den Zeitschriften der Nationalrevolutionäre, ist selbst Herausgeber von Zeitschriften und Sammelbänden, die nicht nur die Erinnerung an den Weltkrieg wachhalten, sondern auch politisch Bekenntnis ablegen. Die daraus erwachsenen Schriften hat Jünger als untergeordneten Bestandteil seines Werkes gesehen, der ihm zeitweise nicht ganz geheuer war. Er maß ihm nicht die Gültigkeit zu, die er für seine Bücher beanspruchte. Aber auch hier war er ständig dabei, die Texte zu schleifen und zu verändern, um den Kern des Ganzen, unverstellt von den Zugaben der Zeit, besser zur Geltung kommen zu lassen. Von den Stahlgewittern gibt es daher sieben Fassungen, wobei zwischen der Erstausgabe und der Ausgabe letzter Hand fast 60 Jahre liegen.
Seine Karriere als politischer Publizist beendete Jünger Ende der 1920er-Jahre recht abrupt. Mit Das abenteuerliche Herz (1929) erfolgte die Absage an kollektive Bemühungen, politisch Einfluß zu nehmen. Allerdings nicht, ohne diesen Kollektivismen drei Jahre später noch einmal seine Stimme zu leihen und in Der Arbeiter (1932) das Ende der bürgerlichen Welt und die Geburt einer neuen zu beschreiben. Inwiefern er darin als Seismograph oder doch als Apologet sprach, ist bis heute umstritten. Sein konsequentes Handeln im Jahr 1933 spricht allerdings dafür, daß er sich schon damals eher als Beobachter verstand: Jünger schlug alle Angebote, sich an hervorragender Stelle am Dritten Reich zu beteiligen aus und kehrte Berlin den Rücken, um auf dem Land unbehelligt arbeiten zu können.
Resultat und Rechtfertigung dieses Rückzugs ist die Erzählung Auf den Marmorklippen (1939), die kurz nach Kriegsausbruch erschien. Die darin geschilderten Begebenheiten sind in einer mythischen Umgebung angesiedelt, unschwer aber als eine Anklage totalitärer Gesinnung und deren Folgen zu verstehen. Nicht nur Jüngers Nimbus als Weltkriegsheld und -autor rettete ihn vor unangenehmen Nachfragen, sondern auch die Tatsache, daß er seit 1939 wieder Uniform trug und dadurch dem Einfluß von Parteistellen entzogen war. Den Zweiten Weltkrieg erlebte Jünger vor allem in einer Stabsverwendung in Paris, wovon er in seinen Tagebüchern Zeugnis ablegte; ein Band konnte sogar noch während des Krieges erscheinen. In Paris stand er auch in Verbindung zum militärischen Widerstand, was 1944 schließlich zu seiner Entlassung und zu einer etwas prekären Lage führte.
Neuerlicher Paukenschlag mit Tagebüchern aus dem Zweiten Weltkrieg und der Absage an die Massengesellschaft
Die totale Kapitulation änderte daran zunächst wenig. Jünger wurde von den Besatzern mit Publikationsverbot belegt, weil er sich weigerte, den Entnazifizierungsfragebogen auszufüllen. Dafür gelang ihm 1949 mit der Publikation der Strahlungen, des Tagebuchs der Jahre 1941 bis 1945, ein Paukenschlag, der für langjährige Debatten in den Feuilletons sorgte. Jüngers Popularität blieb ungebrochen, er spielte für das Selbstverständnis der Konservativen in der frühen Bundesrepublik eine nicht zu unterschätzende Rolle. Auch wenn Jünger sich politischer Aussagen weitgehend enthielt, ließen seine Essays, insbesondere Der Waldgang (1951), seine Vorbehalte gegenüber der demokratisch formierten Massengesellschaft doch deutlich werden.
Die zweite Lebenshälfte Jüngers verlief in weit ruhigeren Bahnen als die erste. Er publizierte unermüdlich bis kurz vor seinen Tod weiter. Essays zu verschiedensten Themen, Aphorismensammlungen, Prosa und nicht zuletzt Tagebücher sind die Frucht dieser Jahre. Schon zu Lebzeiten erschienen zwei Werkausgaben, womit er die Kanonisierung seines Werkes in bestimmte Bahnen zu lenken gedachte. Das Interesse an seinem Werk riß mit seinem Tod nicht ab, im Gegenteil, es bekam Gelegenheit, diese Bahnen zu verlassen. Nicht nur, daß seine politischen Schriften der 1920er-Jahre endlich ediert werden konnten, auch die maßgeblichen Werke, die Tagebücher der beiden Weltkriege und seine Deutungen des Krieges liegen mittlerweile in historisch-kritischen Ausgaben vor, was ganz neue Möglichkeiten der Aneignung dieses großen Schriftstellers und Zeitzeugen eröffnet.
Über den Autor:
Dr. Erik Lehnert, Philosoph und Historiker, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Staatspolitik, das die Zeitschrift „Sezession“ herausgibt. Veröffentlichungen zuletzt: Das andere Deutschland. Neun Typen (2. Auflage 2019), Oliveira Salazar: Nationale Revolution und autoritärer Staat (als Hrsg., 2020).