Wikimedia Commons, Igor Ovsyannykov

Erlebtes Handwerk in seinem Abendrot

von Wilhelm Brauneder

Handwerk erlebte ich im eigenen Haus. In der Wohnküche ratterte die Nähmaschine meiner Mutter – erst mit Fußantrieb, dann elektrisch –, am Küchentisch wurde zugeschnitten, auf einer lebensgroßen Puppe Stoff drapiert, schließlich mit reichlich Beiwerk zu Kleidern komplettiert: Meine Mutter war Damenschneiderin mit Meisterprüfung. Im Garten geschah Handwerkähnliches. Großvater, ein pensionierter Eisenbahner, schliff die Schneide der Sense und dengelte sie, das heißt er klopfte ihre Scharten aus. Die Großeltern mütterlicherseits, von Bauernhöfen im Dunkelsteinerwald stammend, pflegten den Garten wie eine kleine Landwirtschaft. Tatsächlich auf Handwerk stieß ich bei meinem väterlichen Großvater. Er besaß eine kleine Tapeziererwerkstatt in Wien-Margareten. Zwischen allerlei unfertigen Werkstücken und Gerätschaften hantierte er an Polstermöbeln.

Handwerk war seinerzeit allgegenwärtig und gehörte auf Schritt und Tritt zum Alltag.

Das galt auch auf meinem Schulweg in Perchtoldsdorf. Hier besaß der Schuster ein Ladengeschäft, das allerdings gleichzeitig Werkstatt war oder eigentlich umgekehrt. Hier tauchte man in eine wohlriechende Duftwolke ein, die vor allem vom Leder kam. Der Schuster saß bei seinem „Leisten“, arbeitete an einem Schuh, unterbrach sich erst nach ein paar weiteren Handgriffen, suchte was man abholen wollte – etwa einen „Doppler“, ein mit neuen Sohlen versehenes Paar Schuhe – oder vertröstete auf ein andermal. Eleganter gab sich ein paar Schritte weiter der Kürschner. Pelze lagen da in der Auslage, und das Geschäft war nur ein Geschäft, die Werkstatt war von diesem abgetrennt. Aber sie war wichtig. In den Nachkriegsjahren wurden Pelze kaum neu erworben, sondern „umgearbeitet“ und repariert. Schräg gegenüber gab es wiederum eine reine Werkstatt ohne Verkaufsladen, die auch so hieß: die Autoreparaturwerkstatt. Im Gegensatz zu den bald folgenden Jahren sah es hier nicht aus wie in einem sterilen Operationssaal. Repariert wurde in einer Hofeinfahrt mit anschließenden dunklen Nebenräumen. Einige Häuser weiter folgte der Bäcker. Seine Werkstatt war vom Hof aus zugänglich, der stets angenehm nach frischem Brot duftete, und sie war auch einsehbar, man konnte dem Handwerker zusehen, ohne daß dies als „Schaubäckerei“ angepriesen wurde. Eng verwandt war am Marktplatz die Lebzelterei Metzger. Sie besaß neben dem Stephansdom zu Wien ein nobles Verkaufslokal, hier draußen lag die Produktionsstätte. Von dort kam stets der so unverwechselbare Lebkuchen-Konfekt-Honig-Duft. Als typisch für diese Zeit der 1950er- und 1960er-Jahre erscheint mir im Rückblick die Gemengelage von Handwerksbetrieben, Geschäften, Konditoreien, Arztordinationen und Sparkassen. All das ergab ein sehr lebendiges Ortsbild, nicht nur optisch, sondern auch durch die – etwa mangels häuslicher Kühlschränke – tägliche Einkaufstour der Hausfrauen. Am Dorf sah dies freilich anders aus, beispielsweise bei meinen Verwandten im Dunkelsteinerwald.

Am Land waren Handwerksbetriebe selten und prägten das Ortsbild weitaus weniger als in der Stadt.

Die Bauernwirtschaften besaßen hier nahezu ein Monopol. Aber doch nicht ganz: Zu meinem Hausbau um 1980 rekrutierte ich Bautischler, Schlosser, Spengler und Maler jeweils aus einem der dortigen Dörfer. Ähnlich war die Situation im bäuerlichen Sommerfrischeort Weyregg am Attersee, ebenfalls in den 1950er- und 1960er-Jahren. Handwerk war hier selten bzw. nicht ortstypisch. Der bäuerliche Betrieb konnte vieles selbst erledigen, die Motorisierung setzte erst zaghaft ein. Einen Kraftfahrzeugmechaniker allerdings gab es bereits. Doch für größere Reparaturen an unseren Fahrrädern mußten wir sieben Kilometer weit nach Schörfling fahren. Gegenläufig zur Motorisierung verschwanden die Flößerei und der Floßbau. Verwundert sahen wir daher an einem Haus ein Schild mit der Bezeichnung „Flößermeister“. Ein wenig seltsam mutete das „Kalkwerk“ an. In Weyregg gab es keinerlei Steinbruch, die Kalksteine wurden vom Südufer auf „Plätten“ über den See herangebracht, später mit Lastkraftwagen, dann schloß der Betrieb. Handwerk kennzeichnete auch sehr markant unsere Unterkunft. Dort standen in den ersten Jahren hohe Türme aus Faßdauben im Garten, aufgeschichtet mit Zwischenräumen zur Luftzufuhr – wir wohnten bei einem Bindermeister. Fasziniert verfolgten wir Buben die Herstellung eines Fasses über einem kleinen Feuer mit dem sukzessiven Aufbringen der Faßreifen allein durch den Bindermeister. Irgendwann war er dann in den Briefträgerberuf gewechselt. Als einziger Handwerksbetrieb sollte die Autowerkstatt überleben – und sogar expandieren…

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