von Jörg Seidel
In einer Ausgabe der ungarndeutschen Quartalszeitschrift Batschkaer Spuren taucht mein Heimatort Auerbach im Vogtland auf und ein bekannter Name: Reitzenstein. Frau Reitzenstein war Lehrerin an meiner Schule und galt als „Ungarin“. Auch einige meiner besten Freunde aus der Kinder- und Jugendzeit waren „Ungarn“. Dann erfahre ich in Baja von einer anderen älteren Dame, die ebenfalls nach Auerbach vertrieben worden war, deren Familie aber nach Ungarn zurückging. So kreuzen sich drei Lebenslinien, über Jahrzehnte versetzt. Frau Reitzenstein treffe ich in Rebesgrün, einem Dorf, das heute eingemeindet ist. Dort hat der Bund der Vertriebenen, Ortsgemeinde Vogtland, seinen Sitz. Nicht nur die Ungarndeutschen, sondern auch die Vertriebenen aus Ost- und Westpreußen, aus Pommern, Schlesien und dem Sudetenland. Wir setzen uns in den Traditionsraum. An der Wand hängen Leinentücher mit alten Sinnsprüchen, und ein paar Schneiderpuppen tragen Trachten zur Schau.
Heute gibt es in 130 Ländern Ungarndeutsche.
Drei Transporte hat es gegeben. Der erste, bereits 1946, führte nach Aschaffenburg und Ulm, wo sich noch immer eine ungarndeutsche Gemeinde befindet. Der zweite und der dritte – Sommer 1947 und Winter 1948 – endeten im Vogtland. Heute gibt es in 130 Ländern Ungarndeutsche. Meist wurden Frauen und Kinder verschleppt. Die Männer befanden sich in Kriegsgefangenschaft oder waren gefallen. Von der halben Million Ungarndeutschen in ganz Ungarn hatten sich 300.000 zur deutschen Nationalität bekannt, und sehr viele Männer hatten bei der SS gedient. Und zehntausende Ungarndeutsche und Ungarn befanden sich in russischen Arbeitslagern. Man wurde in einen Viehwaggon verladen, in dem es nichts gab. Ein Loch im Boden, wo an die dreißig Personen ihre Notdurft verrichten mußten. Hin und wieder ein Eimer Wasser.
Die Familien hatten sich über Generationen etwas aufgebaut. Frau Reitzensteins Vater war Schneidermeister. Sie hatten ein Haus in Vaskút. Als ich später Frau Marxer, die andere Vertriebene, mit dieser Information versorge, sagt sie sofort: „Ja, das war die Raizengasse, dort gab es mehrere Schneider“. Raizen, so nannten die Schwaben die Bunjewatzen, eine südslawische Ethnie, serbokroatisch sprechend. Auf der Potsdamer Konferenz wurden große Umsiedelungsprogramme beschlossen. Aus der Slowakei wurden ethnische Ungarn in die Batschka umgesiedelt. Diesen sollten die Deutschen nun Platz machen. Ein Zentner pro Person war als Mitnahme erlaubt. Vieh, Mobiliar, Haus und Hof wurden ersatzlos den „Slowaken“ übergeben.
Aus der ungarischen Tiefebene in die Tiefen des Uranbergbaus verschleppt
Schließlich kam der Transport in Pirna an, in der „Grauen Kaserne“ – ein legendärer Ort unter den Ungarndeutschen. Frauen und Männer wurden nun meist getrennt. Die Männer kamen ins Erzgebirge nach Johanngeorgenstadt und mußten im Uranbergbau arbeiten. Frau Reitzensteins Vater hatte Glück – man suchte Schneider in der Wismut. Die Frauen und Kinder kamen ins Vogtland. Sieben Personen mußten sich zwei kleine Zimmer teilen. Die Kinder kamen sogleich in die Schule. Die ersten drei Schuljahre hatte das Mädchen in Waschkut Ungarisch gelernt, zu Hause ein ungarndeutsches, schwäbisches Idiom gesprochen, nun saß sie mit deutschen Kindern zusammen, die einen starken Dialekt sprachen. So wurde sie schnell „die Ungarin“ und ob ihrer Aussprache verlacht. Diese Erfahrung war prägend: das anfängliche Ausgeschlossensein, das Verlachen; es hat fast tiefere Spuren hinterlassen als der eigentliche Heimatverlust. Ab der vierten Klasse besuchte sie die Schule in Auerbach, an der sie später Lehrerin werden sollte. Ich frage sie nach ihrer Heimat. Die Antwort erstaunt: Die Heimat sei Ungarn, auch wenn man hier zu Hause sei. Ob sie zurück wolle? Das nicht. Hier leben die Kinder, die schon nicht mehr fließend die Sprache sprechen, hier lebte sie mit ihrem Mann, und hier wird sie wohl sterben. Als ich später bei Frau Marxer sitze, komme ich mir wie ein Medium vor, das die beiden Schicksale miteinander verbindet. Als Kinder wohnten sie nur ein paar Schritte voneinander entfernt, beide saßen bei der Vertreibung im selben Viehwaggon und hatten vergleichbare Erfahrungen gemacht, aber die eine ist in der DDR geblieben, die andere ist zurück nach Ungarn gelangt.
Die Haare einer erwachsenen Frau bekam kein fremder Mann je zu Gesicht.
In Waschkut lebten vor dem Krieg drei Nationalitäten zusammen: die Schwabendeutschen als Mehrheit, die Ungarn und die Bunjewatzen. Das Leben war friedlich. Der Katholizismus verband. Auf der Straße wurde Schwäbisch gesprochen, in den Familien die Muttersprachen, in den Schulen Ungarisch. Die Gottesdienste waren dreisprachig. Unterschiede gab es trotzdem: Vor allem sah man an den Häusern und Höfen, wer darin wohnte. Die deutschen Häuser fielen durch ihre Ordnung auf, die landwirtschaftlichen Erträge waren größer. Man tauschte die Kinder zum Sprachaustausch aus. So verbrachten die deutschen Sprößlinge die Ferien in den nahegelegenen Orten, wo Ungarisch gelebt wurde, und von dort kamen die Kleinen zu den Deutschen. Schon an der Kleidung erkannte man die Nationalität und sogar das jeweilige Dorf. Die Frauen trugen ein Leben lang Kopftücher, aber jeder Ort hatte seine eigene Art, sie zu binden. Die Haare einer erwachsenen Frau bekam kein fremder Mann je zu Gesicht.
Probleme entstanden erst nach Hitlers Machtantritt – und das ist die große historische Lehre: Solange Frieden und Wohlstand herrschen, können kulturelle, ethnische, materielle und nationale Differenzen abgefedert werden, aber sie brechen zwangsläufig hervor, wenn historische Umbruchzeiten dämmern, wenn Not und Elend einziehen – dann werden scheinbar längst verheilte Wunden aufgebrochen, dann drängen Neid, Mißgunst und Mißtrauen an die Oberfläche.
Auf abgerissene Hühnerköpfe folgte die Deportation.
Der Vertreibung aus der Heimat gingen bereits schwierige Jahre voraus. Hitler hatte auch die Ungarndeutschen gespalten und sie den ethnischen Nachbarn entfremdet. Viele Schwaben waren bei der SS, der „Deutsche Volksbund“ wollte die politischen Interessen bündeln. 1943 begannen die Plünderungen. Zuerst die serbischen Partisanen, die viele Häuser plünderten, das Vieh stahlen. Ausgenommen waren die slawischen Bunjewatzen. Im Oktober 44 standen die „Russen“ im Dorf, meist ethnische Ukrainer. Sie nahmen alles mit. Die Frauen mußten sich wochenlang auf Heuböden verstecken. Ein Bild, das sich tief eingebrannt hatte, waren die herumliegenden Hühnerköpfe, die man dem gestohlenen Geflügel abgerissen und achtlos auf die Straße geworfen hatte. Dann folgten die Deportationen. Der zweite große Transport, im August 1946, betraf die Waschkuter Schwaben. Es ging um Volksbundleute und um jene, die sich bei der Volkszählung 1941 zum Deutschtum bekannt hatten – das waren 3.200 von 4.700 Waschkuten. 300 Leute aus Waschkut kamen in diesen Transport. Die arbeitsfähigen Männer zwang man in den Bergbau, die Frauen und Kinder mußten sich in den Ortschaften eine Unterkunft suchen und eine Existenz aufbauen.
In der ungarischen Heimat wurde derweil der Besitz der Ungarndeutschen verteilt. Zuerst, so erinnert sich Frau Marxer, kamen die Székler, noch während die Familie dort lebte. Sie waren primitive, unkultivierte Leute. Um Feuerholz zu machen, sägten sie Balken aus den Dachstühlen! Es folgten ungarische Siedler, „Agrarproletariat“, verarmte Landbevölkerung, Tagelöhner aus den ostungarischen Weiten. Ihnen wurde Land versprochen, Genossenschaften wurden gegründet. Aber auch dieses Experiment scheiterte schnell. Sie waren die strenge Landarbeit nicht gewohnt, kannten den Weinbau nicht. Schließlich kamen die „Slowaken“, ethnische Ungarn aus der Südslowakei, die ebenfalls in großem Umfang umgesiedelt wurden. Sie übernahmen die heruntergewirtschafteten und ausgeplünderten Güter – einige von ihnen blieben. Als manche der vertriebenen Schwaben illegal in die Heimat zurückkehrten, fanden sie ihre Häuser und Wirtschaften ruiniert und zerstört wieder.
Rettende Seidenstrümpfe
Die nach Deutschland Vertriebenen hatten derweil andere Sorgen. Die Frauen mußten sich Unterkünfte suchen, meist Einliegerwohnungen bei einheimischen Familien. Selten waren sie willkommen. Den Marxers ging es verhältnismäßig gut. Man war wohlhabend, für Waschkuter Verhältnisse. Die Mutter hatte einen Geldbetrag in Forint gerettet, den man nach und nach auf dem Schwarzmarkt umtauschte. Auch hochwertige Seidenstrümpfe wurden gehandelt. Noch vor der Vertreibung stieß der Vater zur Familie. Er kam aus der Kriegsgefangenschaft. Das Mädchen ging in die Schule. Es profitierte von seinen Deutschkenntnissen, mußte sich allerdings mühsam an den schweren Dialekt gewöhnen. Zu Hause lehrte der Großvater weiter Ungarisch. Trotz ihrer deutschen Abstammung waren die Eltern schon sehr magyarisiert, liebten Land, Kultur und Sprache. In der katholischen Kirche gab es jedes Wochenende eine ungarische Messe – längst war das Ungarische für viele Schwaben zur Hauptsprache geworden. Das Kind lebte sich schnell ein, schloß Freundschaften, aber die Eltern zog es zurück. Der Großvater hatte Kontakt zu Schleusern aufgenommen. So wagte man es im November 1948, über die Zonengrenze zu fliehen. Noch einmal taten die Seidenstrümpfe ihr Wunder. Als man bei Nacht und Nebel die ungarische Grenze überquert hatte, empfingen die Familie die Lichter eines Pfarrhauses. Dort hatte man sich bereits auf die Flüchtlinge vorbereitet.