Gespräch mit Dr. Harald Salfellner, Vitalis Verlag
Ulrike Raich: Noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts war Prag eine Stadt mit überwiegend deutschem Charakter. Am Ende des zweiten Weltkrieges riß dort jedoch das deutsche Kulturleben jäh ab. Seit 1991 besteht aber im Herzen der Stadt der Vitalis Verlag, der das kulturelle Erbe angetreten hat. Was sind die Kulturgüter, die Sie mit Ihrem Unternehmen pflegen?
Harald Salfellner:Da ist zunächst die literarische Hinterlassenschaft der Prager deutschen und deutschjüdischen Schriftsteller, von wohlbekannten Klassikern wie Rilke, Werfel, Kafka und Kisch bis zu einer Vielzahl von weniger bekannten Autoren deutscher Zunge, zu denen etwa Prags Troubadour Paul Leppin gehört und der dichtende Frauenarzt Hugo Salus. Da sich die spezifische Prager deutsche Identität nicht zuletzt aus der Wechselbeziehung mit dem slawischen Element ergibt, umschließt unser Interesse auch die tschechische Literatur, die das Prager Deutschtum ja wie eine exotische Hülle umgeben und beeinflußt hat. Neben schöngeistiger Literatur steht dann noch ein riesiger landeskundlicher Fundus bereit, den wir für unsere Leser aufbereiten – von Märchensammlungen und Reiseliteratur bis hin zu historischen Veröffentlichungen aller Epochen.
Der Tatsachenroman BergersDorf von Herma Kennel hatte vor 20 Jahren international Aufsehen erregt, aber vor allem die Gemüter in der Tschechischen Republik erhitzt, ging es doch um das einstige SS-Dorf bei Iglau in Böhmen. Was war geschehen?
Der Roman BergersDorf über ein Verbrechen in einem Sprachinseldorf bei Iglau hat die tschechische Öffentlichkeit stark bewegt. Zum ersten Mal überhaupt ermittelte die tschechische Polizei in einer Nachkriegsmordtat an Deutschen. Zunächst wußte niemand mit Sicherheit, ob es die Opfer denn auch wirklich gäbe. Immerhin löste unser Roman die Ermittlungen aus, nun kam die Sache ins Rollen, die Presse sprang auf. Der Medienrummel war nicht allen recht, immerhin lebte damals noch ein Verdächtiger, der in jener Mordnacht dabei war.
Wenige Jahre später wurde dann ein Massengrab bei Bergersdorf entdeckt, mutmaßlich mit deutschen Opfern vom 20. Mai 1945, also nach Ende des Krieges. Hat diese Entdeckung noch einmal Staub aufgewirbelt?
Die Medien berichteten über Wochen hinweg aus Kamenná, wie im Tschechischen das einstmalige Bergersdorf heißt, bis dann eines Abends während der Hauptnachrichten die Bilder vom Massengrab über die Fernsehschirme flimmerten. Nach der Exhumierung wurden die Gebeine in Prag untersucht, die genetischen Befunde mit Verwandten in der BRD abgeglichen. Bald war kein Zweifel mehr, daß es sich um deutsche Opfer handelte, die genau wie im Roman geschildert umgekommen waren. Die Geschichte hatte noch ein ziemlich langes Nachspiel, und schließlich wurde das Geschehen gar zur Vorlage eines bewegenden Theaterstückes, das in Prag unter großer Publikumszustimmung aufgeführt wurde.
Hatte das Buch BergersDorf Auswirkungen auf Ihre verlegerische Tätigkeit im Herzen der Tschechischen Republik? Wird Ihr Verlag als Störenfried, als unwillkommener Nachfahre eines durch Vertreibung vermeintlich gelösten Problems wahrgenommen? Oder wird das Erbe der Geschichte mittlerweile entspannter gesehen und die kulturstiftende Leistung Ihres Verlages anerkannt?
Natürlich waren verbale Angriffe zu fürchten, als sich das außergewöhnliche Medienecho zu BergersDorf entfaltete. Doch es kam anders – Herma Kennels Tatsachenroman erntete vor allem Anerkennung und Zustimmung, und zwar von politisch weit rechts bis weit links. Dem Vitalis Verlag hat die Entscheidung zu diesem Buch jedenfalls nicht geschadet, wohl auch, weil er längst als kulturelle Bereicherung und nicht als nationale Bedrohung wahrgenommen wird. So bereiten wir derzeit ganz entspannt eine weitere Ausgabe vor, in der auch die Auswirkungen dieses spannenden Romans in einem Bildbericht thematisiert werden.
Das geschichtliche Erbe Prags ist oft deutsch. Stadtführer berichten von Mozart in Prag und von Franz Kafka. Wie groß ist das Interesse an den Hinterlassenschaften der deutschen Vergangenheit bei Touristen und Tschechen?
Vom internationalen Reisepublikum darf man sich nicht allzu viel Interesse erwarten. In ihren Reiseführern und „Apps“ finden Amerikaner, Franzosen oder Spanier meist nichts über die deutsche Geschichte in den Böhmischen Ländern. Gäste aus Peking, Rom oder Mexiko staunen mitunter, daß sich der „Czech writer“ Kafka der deutschen Sprache bediente – und nicht der tschechischen. Selbst das Gros der Touristen aus Wien oder Berlin weiß kaum etwas über die besondere Stellung der deutschen bzw. österreichisch geprägten Vergangenheit Prags. Junge Tschechen, so habe ich den Eindruck, interessieren sich neuerdings vermehrt für das kulturelle Erbe der „tschechischen Deutschen“, wenn auch das Thema immer noch vielfach mit Tabus belegt ist.
Wie viele deutsche Verlage gab es vor dem Ersten Weltkrieg? Gibt es Nachkommen, die dieses Erbe außerhalb Prags angetreten haben?
Die hiesige Verlagstradition läßt sich in die frühe Neuzeit zurückverfolgen. Später, vor allem im 19. Jahrhundert und vor dem Ersten Weltkrieg entfaltete sich eine lebendige Verlagslandschaft mit dutzenden Druckerpressen. Morgens zum Kaffee blätterten die deutschen Leser an der Moldau durch das Prager Tagblatt, die Bohemia oder das Montagsblatt. Selbst die Ärzte verfügten mit der Prager Medizinischen Wochenschrift bis 1915 über ein Medium in deutscher Sprache, das man im Deutschen Reich und auch in Wien mit Interesse las. Als Prager Verlag knüpfen wir an solche Kulturbestände an, wobei wir gern auch über das Pragerische hinausgehen, etwa in Adalbert Stifters schöne Böhmerwaldlandschaft oder in das Riesengebirge des launischen Berggeistes Rübezahl, dessen Sagen und Legenden wir schon wiederholt aufgelegt haben.
Bücher sind Schatzkästchen der Kulturen, und fast jeder hat ein Lieblingsbuch. Das Vitalis-Buch von Fips, dem Affen aus dem Goldenen Gäßchen auf der Prager Burg begleitete meine Kinder jahrelang. Welches Buch aus Ihrem Verlag ist Ihr persönliches Lieblingsprojekt gewesen?
Ohne nachzudenken Hartmut Binders Gestern abend im Café – ein faszinierendes Portrait des Prager Kulturlebens der Vorkriegszeit mit mehr als 1.000 Photos, Plakaten, Gemälden, Plänen und Abbildungen. Einen ganzen Sommer lang habe ich mich auf meinem Liegestuhl an einem steirischen See in dieses herrliche Buch versenkt, habe nach vorne und zurück geblättert, bin eingetaucht in die Welt der Prager Couleurstudenten, habe ihre Buden und Kneipen besichtigt, an ihren Festen teilgenommen. Ein Buch der Wehmut auch, wenn man den überschäumenden, exotischen Reiz des Prager Unterhaltungslebens um 1900 mit dem geradezu langweiligen Pendant von heute vergleicht.
Und welches Buch ging zu Herzen?
Am tiefsten hat mich wohl das Werk Kinderschicksale in den Wirren der Nachkriegszeit berührt, in dem die Geschichte jener traumatisierten Kleinen geschildert wird, die sich nach dem Kriegsende ohne Eltern durchschlagen mußten. Der christliche Pädagoge Přemysl Pittr und seine Mitstreiterin Olga Fierz nahmen sich dieses „Strandgutes des Krieges“ an; darunter waren an die 400 sudetendeutsche Kinder aus tschechischen Internierungslagern. In beschlagnahmten Schlössern südlich von Prag schufen Pittr und Fierz ihren Schützlingen ein liebevolles Heim. Ein erschütterndes und gleichermaßen tröstliches Buch, in dem wenigstens einmal die Menschlichkeit über den Haß triumphiert.
Die Zeiten für Verlage sind angesichts der Digitalisierung und der sinkenden Lesefreude schwierig geworden. Verlage, die wie Ihrer auch den touristischen Markt bedienen, hatten es wegen der Coronapolitik der letzten drei Jahre besonders schwer. Gibt es Herausforderungen, die ein deutscher Verlag im Herzen der Tschechischen Republik zusätzlich bewältigen muß?
Gewiß gibt es manche Herausforderung, die unserem besonderen Status geschuldet ist. Da ist etwa die Notwendigkeit, geeignete deutsch-, aber auch fremdsprachenkundige Mitarbeiter an den Verlag zu binden und die zu Freunden gewordenen Fachkräfte dann nach einigen Jahren wieder in die Heimat ziehen zu lassen. Auch müssen wir als Verlag „im Osten“ gelegentlich gegen groteske Unkenntnis ankämpfen, etwa: „Sie rufen aus Prag an? Ne, nach Polen liefern wa nich“. Da schmunzeln wir dann und freuen uns, daß unsere Verlagsarbeit doch nicht ganz überflüssig ist.
Vielen Dank für das Gespräch!