von Erich Körner-Lakatos
Sie kennen das sicher: Eines Tages stimmt die Rechnung nicht mehr. Nicht bloß die wirtschaftlich-berufliche der Einnahmen und Ausgaben, daran ist man ja schon gewöhnt, sondern auch das Soll und Haben des körperlichen Haushaltes. Irgendetwas scheint da plötzlich nicht mehr in Ordnung zu sein. Wenn es nur die gewohnten kleinen Nervositäten wären, denen ist man bisher mit einem Schluck Kognak oder mit ein, zwei Tassen schwarzem Kaffee immer noch beigekommen.
Aber diesmal ist es etwas Neues: im überheizten Zimmer sonderbare Kältegefühle, trotz gesunden Lebenswandels fast dauernd Kopfweh, Mattigkeit, schlaflose Schläfrigkeit, zunehmende Arbeitsscheu. Und da alle beruhigenden und anregenden Pulver, Pastillen, Tropfen und Tränklein aus der reichhaltigen Hausapotheke meiner besseren Hälfte versagen, bleibt nichts übrig, als diese netten Symptome dem Hausarzt vorzuführen. Der macht, wie meistens, ein bedenklich sorgenvolles Gesicht, das für eine größere Krankheit ausreichen würde, horcht, klopft. Tief atmen, nicht atmen! Zählung des Pulses, Messung der Temperatur und des Blutdrucks. Gottlob keine wirkliche Krankheit. Bloß eine allgemeine Erschöpfung auf nervöser Basis, anders ausgedrückt: ein typisches Beamtenleiden, in Verbindung mit einer vorübergehenden Blutleere im Gehirn. Solang das nur der Hausarzt merkt, ist es ja noch gut, aber wenn sich das in weiteren Kreisen herumspricht, kann das dem Renommee eines Textarbeiters – als solchen bezeichnet mich unser Hausmeister – unmöglich sehr förderlich sein.
Generalreparatur für den müdegelaufenen Motor am Annaberg
Es muß also unbedingt etwas geschehen. Ausspannen, schonen, Luftveränderung. Aber wo? Dort, wo es jetzt Sonne gibt. Vielleicht unter die elektrische Höhensonne? Sie hat schon oft gewirkt, aber diesmal ist das zu wenig. Es wird wohl nichts übrigbleiben, als sich nach der kurz gewordenen Reisedecke zu strecken. Also nicht mehr als hundert Kilometer südwärts und einige hundert Meter näher zur Sonne. Mit einem Wort: ein bißchen Annaberg. Die für den kränkelnden Wiener gerade noch erschwingliche Erholung. Generalreparatur für den müdegelaufenen Motor, der eine Reinigung durch Luft und Sonne braucht, um bis Ostern wieder halbwegs verläßlich zu funktionieren.
Die Erholung beginnt schon in dem Moment, wo man den überheizten Postautobus verläßt und den ersten Atemzug macht: prickelnde, klare Schneeluft, die man wie einen frischen Trunk genießt. Nun gilt es, die dichtverschneite Straße von der Bushaltestelle bis zum Quartier, dem altbekannten Posthotel, bergauf zu wandern. So zweihundert Schritte.
Morgen ist auch noch ein Tag zum Nichtstun.
Jetzt ist die stille Zeit am Annaberg, eine absolut idyllische Stimmung, für die Hoteliers wie auch Gasthofbetreiber begreiflicherweise nicht sehr schwärmen. Aber dem menschenmüden Großstadtflüchtling tut sie wohl. Im Quartier bekommt er das schönste Eck- und Balkonzimmer mit Aussicht auf den Ötscher und Sonne auf allen Seiten. Und zum Essen, was seinem Magen bekömmlich ist: Naturschnitzel, leichte Mehlspeisen. All dies in ausgesprochenen „Protektionsportionen“, von denen man in der Stadt nur träumen kann. Außer mir sind ja nur zwei Gäste da. Freilich: Die strenge Landluft haut den Großstädter zusammen. Er gähnt, als ob es Mitternacht wäre. Obgleich die Uhr erst Neun zeigt. Also schön, legt sich der Mensch halt ins Bett. Morgen ist ja auch noch ein Tag zum Nichtstun.
Ach ja, die Höhensonne: Man kann sie auf verschiedene Arten genießen. Keineswegs vor zehn, halb elf. Sie kommt zwar schon gegen neun Uhr über dem Ötscher hervor, doch um diese Zeit weht das Lüfterl aus der Mariazeller Gegend noch gar zu schneidig. Aber zwischen elf und eins, das sind die richtigen, wundervollen Sonnenstunden. Zuerst ein langsames Promenieren über die Pfarrwiese, dann schnellen Schrittes – ah, da schau, es geht ja wieder! – hinauf zur Bundesstraße. Der von so viel frischer Luft erschöpfte Urlauber strebt zurück zum Gasthof, wo jetzt eine ganz erstklassige und von keinem Windhauch gestörte Mittagssonne scheint. Unerhört schön und wohltuend ist es, auf einer der Bänke vor dem Quartier zu sitzen. Vom Mittagsläuten der Wallfahrtskirche bis zum Mittagessen, regungslos, sonnenanbetend, schon leicht errötend und ohne andere Gedanken als: ah, wie schön, ah, wie gut! Dann ist Essenszeit, vorher ein wenig Literaturstudium – die Speiskartn.
Danach bandelt man wieder mit der Sonne an, kriegt einfach nicht genug von ihr. Hier, auf dem Annaberg, da ist der ideale Platz. Nach ein paar Tagen fühlt man sich pudelwohl. Wehwehchen? Alles wie weggeblasen. Nicht einmal der besorgte Hausarzt könnte jetzt irgendwelche Symptome finden. Ich weiß nichts mehr von Puls und Blutdruck, horche nur mehr hinein in die absolute Stille ringsum. Bis mich der Gastwirt aufschreckt: „Gnä‘ Herr, es warat Jausenzeit!“