Monatszeitschrift für Politik, Volkstum und Kultur.

Dortmund-Nordstadt ist überall

von Benedikt Kaiser

Das journalistische Schema aus der heutigen Bundesrepublik, wenn es um innerdeutsche Gesellschaftsanalysen geht, ist bekannt: Reporter aus Westdeutschland, ob im staatsnahen Rundfunk oder in privaten Medienkonzernen tätig, fahren gen Osten und suchen mitteldeutsche Dörfer und ostdeutsche Städte auf – immer auf der Suche nach dem, was der gemeine Westler gewohnt ist, als Feldstudie via TV-Reportage, Zeitungsstück oder Radiodokumentation vermittelt zu bekommen: Retro-Skinheads, AfD-Wutbürger, zurückgebliebene Verbitterte, Abrißhäuser und vermeintliche sozialistische Altlasten. Garniert wird das dann mit einer meist aus dem bunt-urbanen Westen in den Osten zurückgekehrten oder übersiedelten Person oder Gruppe, die das „blaue“ (oder gar „blau-braune“) Land nicht aufgeben möchte, sondern gegen alle ostzonalen Widerstände und Widrigkeiten dafür kämpft, daß auch das Gebiet der ehemaligen DDR, fünfunddreißig Jahre nach der staatlichen Einheit zumal, vollumfänglich verwestlicht wird: Klimabewegt, multikulturell, „weltoffen“ soll es endlich zugehen zwischen Ostseestrand und Erzgebirgskamm. Da dieses mediale Schema zwar ungemein nach Klischee klingt, de facto aber seit vielen Jahren die publizistische Realität abbildet, scheint der „Markt“ für derlei Ostvoyeurismus durch westdeutsche Zuschauer allmählich kleiner zu werden. Zeit für etwas Neues.

Das Neue: Der Spieß wird umgedreht. Das dachte sich jedenfalls der ÖRR-nahe Journalist und Grimme-Preisträger Matthias Schmidt, der bereits durch zwei bundesweit beachtete Ost-Reportagen bekannt wurde – zuletzt präsentierte er im Sommer 2024 seine Doku „Wut. Eine Reise durch den zornigen Osten“. Trotz gewisser Nuancen blieb auch diese Sendung vom denkerischen Ansatz her klischeelastig. Nun soll also gegen den Trend geforscht und berichtet werden: Schmidt macht sich auf ins tiefste Westdeutschland; die Reportage, die den Erzählfaden der Vorgänger weiterspinnt, nur eben umgekehrt, nennt sich „Wut. Jetzt fahren wir in den Westen“ und kann seit dem 1. Oktober kostenfrei via YouTube und ARD-Mediathek nachbetrachtet werden.

Schmidt wählt sich dafür den Westen im Westen aus: Nordrhein-Westfalen. Dort, um diesmal ein anderes Klischee zu bemühen, stammen die Prototyp-Wessis her: bieder, bürgerlich, bonzig. Das mag stimmen, insbesondere im Rheinland und im Münsterland, wo die parlamentarische Vertretung des westdeutschen akademischen Bürgertums, die Grünen, Ende September im Zuge der Kommunalwahlen einige Traumergebnisse gegen den exakt gegenläufigen antigrünen Landes- und Bundestrend locker-lässig verfestigen konnten. Das stimmt aber schon weniger in der Herzkammer der deutschen Industrie, dem Ruhrgebiet. Wo einst Kohle und Stahl gefördert wurde und der Malocherkult gelebt und geliebt wurde wie sonst wohl nur in Oberschlesien, trifft der Journalist Schmidt auf Menschen aller Klassen – er möchte ein Panorama westdeutscher Transformationen bieten, das die Zuschauer kaum bis gar nicht auf dem Schirm haben. 

Nicht auf dem Schirm haben viele Deutsche – ich meine allerdings: West- und Ostdeutsche gleichermaßen –, daß dort, wo einst die Zechen vierundzwanzig Stunden am Tag offengehalten wurden, heute alles geschlossen ist, was diesen Industriearbeitercharme einst groß machte. Der Bruch kam nicht wie im Osten über Nacht, und er kam nicht wie im Osten als totaler Bruch, sondern als langanhaltende Transformation einer ehemaligen Wirtschaftsbastion hin zu einer postindustriellen Brache mit mehr als fünf Millionen Bewohnern (NRW gesamt: 18 Mio.) – aber er kam. Die ostdeutsche Besonderheit gegenüber der westdeutschen Lage erfaßt der in Görlitz wirkende Sozialwissenschaftler Raj Kollmorgen perfekt, als er in der Sendung formuliert: „Die Besonderheit des Ostens liegt nicht darin, daß sich viel verändert hat, sondern daß sich viel in sehr kurzer Zeit verändert hat.“

Im Westen, im Ruhrgebiet zumal, dauerte dieser Wandel viele Jahre lang, und er dauert an. Das wird deutlich bei Gesprächen mit einer Kioskbesitzerin in Wattenscheid und mit einem Türken in Duisburg. Der Linkstendenz des Öffentlich-Rechtlichen entsprechend bleibt jedoch die in NRW überaus massive und konfliktbeladene Migrationsthematik stark unterrepräsentiert. Zwar werden Islamismus, Gewalt und Verwahrlosung angeschnitten – aber die wachsende Wut, die im Titel der Dokumentation genannt wird, und die nicht nur einheimische Deutsche, sondern auch langjährig integrierte Migranten aus Polen oder auch der Türkei ob der hunderttausenden Neuankömmlinge aus Afghanistan, Syrien, dem Irak und insbesondere aus Sinti- und Roma-Clans längst erfaßt, kann nicht verstanden werden ohne die massive Überfremdungspolitik der letzten Jahrzehnte. Sie hat selbst dem traditionell migrationsfreundlichen Ruhrgebiet – neben der Deindustrialisierung als sozialer und wirtschaftlicher Frage – eine so ungewollte wie umfassende identitäre Neusortierung beschert. 

Es ist dies eine Neusortierung, die selbst für westdeutsche Verhältnisse krasse Probleme der Verelendung ganzer Stadtgebiete hervorruft – und die im Osten dafür sorgt, sich entsprechende Verhältnisse der Marke Dortmund-Nordstadt, Duisburg-Marxloh, Essen-Altendorf und andere mehr denn je vom Hals halten zu wollen. Ob das gelingt, bleibt zweifelhaft. Denn die empfehlenswerte TV-Dokumentation Matthias Schmidts zeigt: Veränderungen dauern mitunter lange, aber wenn sie schließlich wirken, wirken sie nachhaltig und tiefgreifend, womöglich auch: irreparabel.

Wer für Ostdeutschland also derartige Zustände vermeiden will, muß sich nicht nur mehr denn je kulturell behaupten und politisch widersetzen. Er muß zuallererst gen Westen blicken – um zu sehen, wie man es nicht macht. 

Benedikt Kaiser

Über den Autor:
Benedikt Kaiser, Jg. 1987, studierte an der Technischen Universität Chemnitz im Hauptfach Politikwissenschaft. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lektor und Publizist. Kaiser schreibt u.a. für Sezession (BRD), Kommentár (Ungarn) und Tekos (Belgien); für éléments und Nouvelle École (Frankreich) ist er deutscher Korrespondent.

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