Kalendarium Kandili (8)
von Mario Kandil
Ein seitens der alliierten Reparationskommission im Dezember 1922 festgestellter, bloß geringfügiger Lieferrückstand deutscher Reparationen an Frankreich war ein nur allzu willkommener Vorwand, zwischen dem 11. und 16. Januar 1923 fünf französische Divisionen und einige belgische Einheiten ins Ruhrgebiet einmarschieren zu lassen. Mit diesem staatsterroristisch zu nennenden Einfall in das Zentrum der deutschen Schwerindustrie verfolgte der französische Ministerpräsident Raymond Poincaré das Ziel, den ohnehin schon drastisch zu Frankreichs Gunsten ausgefallenen Versailler Vertrag noch weiter zu dessen Vorteil zu revidieren und die Westgrenze Deutschlands nach Osten zu verschieben.
Im Deutschen Reich löste der französisch-belgische Einmarsch parteiübergreifend einen Sturm der Empörung aus. Die Regierung des parteilosen Reichskanzlers Wilhelm Cuno rief am 13. Januar 1923 die Bevölkerung im Ruhrgebiet zu passivem Widerstand auf; Beamten war es verboten, Befehle der Okkupanten zu befolgen. Die Menschen im Ruhrgebiet leisteten in beeindruckender Geschlossenheit Cunos Aufruf Folge, die Besatzungsbehörden ihrerseits wiesen zwischen 120.000 und 150.000 Menschen aus dem Ruhrgebiet sowie aus dem seit 1919 okkupierten Rheinland in das „unbesetzte“ Deutschland aus.
Neben dem passiven gab es auch einen aktiven Widerstand in Gestalt von Sabotageakten und Sprengstoffanschlägen, bei denen Nationalisten und Kommunisten oftmals zusammenarbeiteten. Von politisch rechter Seite wurde der Emscher-Durchlaß des Rhein-Herne-Kanals bei Henrichenburg durch Sprengung zerstört. Die Besatzer griffen zu massiven Repressalien wie der Hinrichtung von Albert Leo Schlageter wegen Spionage und Sabotage. Doch sie verrechneten sich gründlich, denn Männer wie er stiegen in den Augen der deutschen Öffentlichkeit zu Märtyrern auf und befeuerten damit den Widerstand gegen die landfremden Eindringlinge weiter.
Aber Streiks, die wirtschaftliche Absperrung des Ruhrgebiets und Produktionsausfälle ruinierten die deutsche Wirtschaft, denn die Kosten überstiegen die Möglichkeiten der Reichsfinanzen bei weitem. Darüber hinaus nahmen Inflation und Versorgungsengpässe erschreckende Dimensionen an. Angesichts dessen sah sich die Reichsregierung unter dem neuen Reichskanzler Gustav Stresemann von der DVP gezwungen, am 26. September 1923 den passiven Widerstand einzustellen.
Über den Autor:
Dr. phil. Mario Kandil M.A., geb. 1965, studierte in Aachen Mittlere und Neuere Geschichte, Alte Geschichte und Politische Wissenschaft und promovierte in Hagen. Nach langjähriger Tätigkeit im universitären Bereich und in der Erwachsenenbildung heute freier Historiker und Publizist. Forschungsschwerpunkte: Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons I. sowie der Nationalstaaten, Weltkriege und Kalter Krieg.