von Josef Müller
Ostanatolienreisende erleben fernab der Stambuler Einkaufsstraßen und der südlichen Badestrände täglich eine Mischung aus Märchen aus Tausendundeiner Nacht und Durchs wilde Kurdistan. Dazu gehört auch eine 130 Jahre alte deutsche Minderheit.
Was hatten die Stadt Wesenberg im Nordosten Estlands und die Stadt Kars im Südosten der Türkei gemeinsam? Beide gehörten einige Jahrzehnte lang gemeinsam zum Russischen Reich. Und was haben sie heute noch gemeinsam? Eine personelle Verbindung. Der russische Kaiser ließ 1892 aus dem Umkreis von Wesenberg einige hundert Familien an den südlichen Stadtrand von Kars umsiedeln. Novoestnoje hieß eines der Dörfer amtlich auf Russisch, was nicht schwer als „Neuestland“ zu übersetzen ist – Estland war eines der drei russischen Gouvernements im Baltikum. Besagtes Dorf wurde von seinen Einwohnern Paulinenhof genannt, heute heißt es türkisch Karacaören, was man am ehesten als „schwarze Ruinen“ deuten könnte – und womit man gar nicht falsch liegt.
Die Vielvölkerstadt Kars wird zum Schlußlicht.
Während Estland nach dem Ersten Weltkrieg erstmals staatliche Unabhängigkeit genoß, schlug man Kars dem Osmanischen Reich zu, das kurz darauf in die neue Türkische Republik umgewandelt wurde. Kemal Atatürk, selbst Sohn eines Dönme – eines Angehörigen einer türkisch-jüdischen Sekte – und einer Albanerin, trimmte die neue Republik auf türkischen Nationalstaat, der nur die türkische Sprache sowie türkische Familien- und Ortsnamen erlaubte. Für die in mehrheitlich kurdischem Siedlungsgebiet eingebettete Vielvölkerstadt Kars bedeutete das einen herben Rückschlag, der mit ein Grund für den wirtschaftlichen Niedergang war. Kars ist heute ökonomisch das Schlußlicht der Türkei, mit exorbitanter Arbeitslosigkeit. Jene russischen und armenischen Häuser, die keinen auf Repräsentation bedachten Eigentümer haben, bröckeln vor sich hin.
Als letzten, zerbröckelnden Stein einer alten Burg sieht sich auch Familie Albuk.
Die Karser Deutschen sorgten um 1900 für florierende Dörfer, die fleißig Bier brauten und einen noch heute berühmten regionalen Käse kreierten. Als es aber in Westdeutschland in den 1960er-Jahren zu einem atemberaubenden wirtschaftlichen Aufstieg kam, packten immer mehr von ihnen ihre Koffer und wanderten aus. In die verlassenen Gehöfte und Häuser rückten Karapapaken, alevitische Turkmenen, aus den benachbarten Bergen nach. Diese freuen sich über die alteingesessene deutsche Familie vor Ort, die immer wieder europäische Gäste, ja, manchmal sogar Fernsehteams und damit ein bißchen weite Welt ins Dorf bringt.
Sprachlich und religiös ist die Situation der Albuks allerdings ein blanker Jammer. Die Kirche wurde irgendwann zur Dorfschule und dient heute als Lagerraum. Die Albuks müssen ihre Kinder selbst protestantisch taufen, und der Vermerk „Christ“ im Reisepaß ist eine unüberwindbare Hürde bei der Arbeitssuche. Das deutsche Vokabular des Brüderpaares August und Petro läßt sich an einer Hand abzählen. Wer ohne Türkischkenntnisse auf Besuch kommt, muß es auf Russisch versuchen, der Sprache ihrer Mutter. Als August vor Jahrzehnten einmal einige Wochen bei Verwandten in der BRD verbrachte, suchte er bald Kontakte in der türkischen Gemeinde.
Bunte Hunde in einer archaischen Welt
Seit vielen Jahren prophezeit August, daß man sich nicht mehr lange werde halten können und in das deutsche Mutterland werde zurückkehren müssen. Daß das aber doch nicht stattfindet, hat vermutlich zwei Gründe: In der BRD würde wohl eine Hartz-IV-Zukunft warten. Die Brüder betonen zwar, handwerklich-technisch hochqualifiziert zu sein, aber sie kämen aus einer Welt, in der man noch Frauen am Fluß die Wäsche waschen sieht und wo im Winter die Ställe im Erdgeschoß die Wohnräume im ersten Stock wärmen. Und nicht zuletzt sind die Albuks in ganz Kars bekannt wie die sprichwörtlichen bunten Hunde, was man wohl auch nicht missen möchte. In diesem Sinne gilt: „The show must go on!“