von Erik Lommatzsch
Joachim Fernau
Die Reihe der „Genies der Deutschen“, die Joachim Fernau in seinem gleichnamigen Buch mit einer kurzen Biographie näher vorstellt, beginnt mit Kaiser Otto I., dem Großen, und endet mit Albert Einstein. Dies zeigt nicht allein die Spannbreite der Personen, denen Fernau die Bezeichnung Genie zuerkennt, sondern läßt auch vermuten, daß der Auswahl eine Idee zugrunde liege, die über das landläufige Verständnis des Begriffs hinausgeht.
Joachim Fernau (1909-1988) betätigte sich als Schriftsteller, Journalist, Maler, Kunstsammler und Kunstkenner, der auch diesbezüglich publizierte. Sein belletristisches Schaffen umfaßt sowohl heiter-leichte Werke wie Ein Frühling in Florenz als auch tiefgründig-nachdenkliche Romane wie Ein wunderbares Leben. Bis heute bekannt ist er aber vor allem für seine Darstellungen historischer Themen. In einem unverwechselbaren Stil, stets leicht und pointiert, oft ironisch und lakonisch, vermochte er Geschichte und Persönlichkeiten einem großen Publikum nahezubringen. In Rosen für Apoll und Cäsar läßt grüßen etwa erschloß Fernau auf seine Art die Welt der Griechen und Römer. Als erster großer Erfolg gilt Deutschland, Deutschland über alles… von 1952, eine Geschichte Deutschlands.
Im Jahr darauf folgte das hier im Mittelpunkt stehende Werk, zunächst unter dem Titel Abschied von den Genies. Später publiziert als Die Genies der Deutschen wurde es mit dem Untertitel Die Leuchtfeuer verlöschen, der Blindflug beginnt versehen. Auch wenn dieser in späteren Auflagen entfiel, wird deutlich, daß Fernau pessimistisch in die Zukunft sah. Im Schlußkapitel heißt es: „Was morgen anbrechen wird, ist eine unisone Kulturwelt.“ Und: „Vielleicht sind wir die letzten, … die die Möglichkeit noch einmal genießen, die historischen Genies der Deutschen zu verehren.“ Geschrieben wurden diese Sätze vor 70 Jahren. Die Entwicklung seither hat Fernaus Zeitdiagnosen bestätigt.
Zu Beginn des Buches führt er durch die Geschichte der Vorstellung vom Genie an sich. Zunächst habe man Helden und Heilige gekannt und verehrt. Das Genie an sich, „dessen Taten und Gedanken sich über alle Zeiten erhalten“ haben, sei mit der Renaissance ins Spiel gekommen. „Fackelträger“ in unruhigen Zeiten und „Tröster“ in der Resignation seien sie gewesen, Menschen zu denen man aufsah. In der Romantik des 19. Jhd. habe die Geniebegeisterung ihren Höhepunkt erreicht. „Nie zuvor und nie mehr darnach ist Geschichte so geliebt worden.
Um dieser Großen willen.“ Entzauberung des Genies im 20. Jahrhundert und bis heute
Mit der Vermassung, mit der Wende zum 20. Jhd. habe eine Rückentwicklung eingesetzt, man sei zum „primitiven Bild der Vorzeit“ zurückgekehrt, zum Helden. Der Neidgedanke sei aufgekommen, die „faule Menge“ habe protestiert „gegen den Ausreißversuch einzelner Menschen aus der Normung“. Nun sei es um Entzauberung gegangen, um die menschlichen Schwächen der Genies. Endlich „brauchte man kein Minderwertigkeitsgefühl mehr zu haben“. Sogenannte Stars und Menschen, die durch banale Aktionen hervorträten, seien an die Stelle der Genies getreten. Wenn Fernau feststellt, „die Halbwüchsige, die sich bei einem Fest vordrängt, um ihren originellen Appell an das Gute im Menschen loszuwerden, wird berühmt“, glaubt man, er habe das Buch in unseren Tagen verfaßt.
„Genies werden vom eigenen Volk erlebt, von anderen Völkern nur gesichtet“
Der wesentliche Grund, Fernaus Werk wieder zur Hand zu nehmen, ist jedoch die von ihm entwickelte Methode zur Beantwortung der Frage, was ein Genie ausmache. Wer ist zu den Genies zu zählen? Bisherige Theorien stießen an Grenzen, und Soziologen seien so weit gegangen, die Existenz von Genies stark zu relativieren oder gar zu negieren. So wurde behauptet, diese seien nur das, was die jeweilige Zeit aus ihnen mache. Fernau hingegen erklärt, daß das Genie etwas Dauerhaftes sei. All den vorangegangenen Überlegungen läge ein Denkfehler zugrunde: Man habe „zuerst Genies ernannt und dann ihre Stabilität untersucht“. Diese Reihenfolge sei falsch gewesen. Betrachte man die Vergangenheit, ohne sich zunächst auf Personen zu konzentrieren, so werde man „an irgendwelchen Punkten der Geschichte des geistigen Lebens unseres Volkes eine starke Wirkung ‚Unbekannter‘ feststellen“. Deren Zahl sei gering; um „Seelenbeweger und Sinneswender“ handle es sich. „Genie ist Wirkung und überhaupt nur an Hand der geschichtlichen Linie eines Volkes erkennbar… Genies werden vom eigenen Volk erlebt, von anderen Völkern nur gesichtet“. Zeitenwender seien die Genies, andere „haben uns erbaut, sie haben uns gestaltet.“ Und zu Letzteren zählt Fernau neben Otto I. und Einstein etwa auch Albrecht Dürer, Martin Luther und Johann Sebastian Bach.