Kalendarium Kandili (2)
von Mario Kandil
Vier Jahrzehnte liegt nun der Machtwechsel von SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt zu CDU-Kanzler Helmut Kohl zurück. Für letzteren begann eine Ära von 16 Jahren an der Macht, doch am 1. Oktober 1982, als der Pfälzer durch ein konstruktives Mißtrauensvotum ans Ruder kam, glaubte wohl nicht einmal er selbst an eine so lange Ägide.
Vielen, die das politische Parkett in Bonn, der damaligen Bundeshauptstadt, kannten, fiel auf, daß dort wichtige Veränderungen bevorstünden. Es ging nicht bloß um neue Namen und Gesichter in den Ministerien oder auch nur um neue politische Strategien. Es gab eine merkliche Veränderung in der Atmosphäre, im Stil, in den Einstellungen, und mehr als alles andere verkörperte der neue Kanzler Helmut Kohl als Person die neue Stimmung. Ironischerweise handelte es sich dabei nicht um die „geistig-moralische Wende“, die Kohl anstrebte, denn diese sollte am Ende ausbleiben. Dennoch waren es Veränderungen, die die BRD in den 1980er und 1990er Jahren prägen sollten. Dazu gab es unter Kohl ein letztes Aufleben der „guten alten“ BRD – so muß sie in Anbetracht der heutigen (wirtschaftlichen) Krise und der unhaltbaren Zustände in der Berliner Republik in der Tat erscheinen.
Alter und neuer Kanzler
Der Hanseat Helmut Schmidt, der Anfang Mai 1974 anstelle des über die Affäre um den DDR-Spion Günter Guillaume gestrauchelten Willy Brandts Bundeskanzler geworden war, hatte sich bereits vorher einen Namen als erfahrener und kompetenter Pragmatiker der Macht, eines „Machers“, erworben. Er erwies sich von 1974 bis 1982 (in einer Zeit wirtschaftlicher Rezession und linksextremistischen RAF-Terrors) als geeigneter Mann auch für das höchste Amt der Exekutive. Schmidts Regierungsstil war weltmännisch, wortgewandt, streng, ebenso (schul-) meisterlich wie arrogant, aber höchst sachlich und effizient – etwas, das in unserer krisengeschüttelten Gegenwart schmerzlich vermißt wird.
In acht Jahren Kanzlerschaft hatte Schmidt mit seiner Persönlichkeit und seinem Stil Bonn so stark geprägt, daß es für viele regelrecht unvorstellbar war, ein anderer könne das Ruder übernehmen, am allerwenigsten der eher provinziell und linkisch erscheinende Helmut Kohl. Man hatte sich an eine Kanzlerschaft gewöhnt, die die Probleme in einem flotten, managementartigen Stil anging – Analyse, Entscheidung, Handeln –, verbunden mit einem politischen „Vermarkten“ der Ergebnisse. Schmidts Helfer arbeiteten Tag und Nacht, während ihr Vorgesetzter – geschäftig, spöttisch, mitunter überaus unsympathisch – sich auf der internationalen Bühne gewandt bewegte, bestes Englisch sprechend, dozierend und Aufmerksamkeit für sich einfordernd. Es schien, als gäbe es keinen anderen Weg, die BRD zu regieren. Der unbedarfte, scheinbar lethargische Oppositionsführer Kohl schien zu jener Zeit keine echte Alternative darzustellen.
„Geistig-moralische Wende“?
Doch dann wurde just er am 1. Oktober 1982 neuer Bundeskanzler. Dieser konservative Wechsel der Gezeiten war in vielerlei Hinsicht das Gegenteil von 1969. Er war nicht das Resultat eines Wahlsiegs zugunsten inspirierender neuer Ideen, sondern einfach eines Seitenwechsels der FDP. Die elektorale Bestätigung dieses Wechsels folgte erst im Jahr darauf (1983), fiel dafür aber umso klarer aus. Schmidt war ein charismatischer Kanzler gewesen, Kohl war alles andere als das. Und während die Politik der sozial-liberalen Koalition eine dramatische Abkehr von der vorherigen Regierungspolitik dargestellt hatte, setzte Kohl in wichtigen Bereichen auf Kontinuität. So führte er die Ostpolitik seiner Vorgänger fort, die die CDU zuvor noch so heftig bekämpft hatte. Zugleich versuchte er aber auch, konservative Werte aus der Vergangenheit zurückzuholen, um so ein neues Lebensgefühl zu befördern.
Kurz nach seinem Amtsantritt führte Kohl in seiner Regierungserklärung aus: „Die schweren materiellen Probleme, vor denen wir stehen, sind […] nur zu lösen, wenn wir uns den geistig-moralischen Herausforderungen unserer Zeit stellen. Wir stecken nicht nur in einer wirtschaftlichen Krise. Es besteht auch eine tiefe Unsicherheit, gespeist aus Angst und Ratlosigkeit – Angst vor wirtschaftlichem Niedergang, Sorge um den Arbeitsplatz, Angst vor Umweltzerstörung, vor dem Rüstungswettlauf, Angst vieler junger Menschen vor ihrer Zukunft.“
Immer wieder griff Kohl in anderen Reden dieses Thema auf und sah die Hauptursache für die von ihm beschriebenen Mißstände in „einer seit über einem Jahrzehnt betriebenen Verunsicherung im Verhältnis zu unserer Geschichte, zu unseren grundlegenden ethischen Werten und sozialen Tugenden, zu Staat und Recht und […] auch in einer Verunsicherung in unserem nationalen Selbstverständnis“. Viele Werte, so fand er, seien im „Abfalleimer der Geschichte“ gelandet, darunter Religion, Autorität, Familie und Respekt vor dem Alter. Weiter beklagte er: „Immer mehr Menschen wurden im letzten Jahrzehnt der ethischen und moralischen Orientierungspunkte für ihr Handeln beraubt. Wachsende Verunsicherung und zunehmende Orientierungslosigkeit führten zu einem weitverbreiteten Kultur- und Fortschrittspessimismus und Zukunftsangst.“ Er kündigte einen „historischen Neuanfang“ an, eine „Politik der Erneuerung“ sowie der „Freiheit, Dynamik, Selbstverantwortung“. Ungeachtet konträrer Tendenzen sprach er von „Heimat“, „Vaterland“ und „Liebe zu Deutschland“ und verlangte Klugheit, Mut und besonders Zuversicht.
Die Gegenbewegung
Kohls „geistig-moralische Wende“ stieß in der BRD auf erheblichen Spott und rief in weiten Teilen der Gesellschaft das genaue Gegenteil des von ihm Beabsichtigten hervor. Es zeigte sich, daß viele der gesellschaftlichen Entwicklungen, die schon vor und während der sozial-liberalen Ära ihren Anfang genommen hatten, tiefgreifend und letztlich irreversibel waren. Junge Leute würden ihre Haare nicht plötzlich wieder kurz schneiden, ihre Wohngemeinschaften oder „wilden Ehen“ aufgeben und wieder zu ihren Eltern ziehen. Frauen würden ihre „Selbstverwirklichung“ inklusive Karrieren nicht aufgeben und an den Herd zurückkehren. Friedens-, Antiatomkraft-, Umwelt- und Frauenbewegung setzten jetzt erst recht ihre Umtriebe fort und untergruben Kohls Wende bereits im vorpolitischen Raum.
Obwohl schon um 1976 entstanden, breitete sich die „Neue Deutsche Welle“ als die deutsche Variante von „Punk“ und „New Wave“ lawinenartig aus. Voller Hohn machten sich Musikgruppen wie „Geier Sturzflug“ in Liedern wie Bruttosozialprodukt über das Kohlsche Vorhaben, in der BRD ein neues Wirtschaftswunder zu produzieren, lustig. Sie malten sarkastisch die Renaissance des von ihnen als „Spießertum“ der Adenauerzeit verspotteten Klimas als Menetekel an die Wand. Doch ging es bei diesen Liedern auch um den als quasi kurz bevorstehend geschilderten Dritten Weltkrieg – ausgelöst durch das Wettrüsten zwischen Ost und West (vgl. Nena, 99 Luftballons). Wobei die „nützlichen Idioten“ Moskaus die imperialistischen Bestrebungen der UdSSR nur allzu gerne leugneten und US-Präsident Ronald Reagan als skrupellosen Kriegstreiber attackierten. Über der Frage der Nachrüstung schien die BRD innenpolitisch zu zerbrechen.
Kohl als Identifikationsfigur
Die zänkischen Roten mochten den „Provinzler“ Kohl mit Hohn übergießen und mit dem Spottnamen „Birne“ versehen, doch die Masse der „Durchschnittsdeutschen“ war erleichtert, daß just er an die Macht gelangt war. Und vielen sagte auch sein Stil zu. Anders als der Krisenmanager Schmidt entschärfte Kohl Konflikte instinktiv, spielte Schwierigkeiten herunter und verbreitete eine Atmosphäre der Ruhe und Normalität. Seine Reaktionen auf nahezu jegliches Thema wurden vorhersehbar: „Das ist für mich überhaupt kein Problem.“ „Ich sehe keinen Grund, warum […].“ „Ich brauche keine Belehrung in […].“ Und die meisten Journalisten verachtete er, darin mit Bismarck einig, als „Preßbengel“.
Kohl meisterte die schwere Krise um den NATO-Doppelbeschluß und brachte überdies einige bedeutende Reformen auf den Weg, etwa in der Gesundheits- und in der Steuerpolitik. Dennoch blieb er als Person lange ungewürdigt, und die Witze über seine vielen Tritte in politische Fettnäpfchen waren Legion.
Bei der Bundestagswahl 1987 sank der Stimmenanteil der CDU auf 44,3 % ab, und dazu mußte die Partei in einer Serie von Landtagswahlen Verluste und Niederlagen hinnehmen. Viele Christdemokraten waren Ende der 1980er Jahre unzufrieden, und so formierte sich unter führenden CDU-Mitgliedern sogar eine Art Verschwörung gegen Kohl. Doch mit seiner großen politischen Gerissenheit und seinem Machtinstinkt setzte sich der „Dicke“ im September 1989 auf dem Bremer Parteitag gegen seine internen Gegner durch.
„Kanzler der Einheit“
Nur zwei Monate danach wurde am 9. November 1989 die Berliner Mauer geöffnet, und Kohl ergriff den „Mantel der Geschichte“. Kurz zuvor noch als Regierungschef fast am Ende, konnte er sich jetzt als „Kanzler der Einheit“ in Szene setzen. Mit seinem Zehn-Punkte-Programm für die Vereinigung Deutschlands ging er in die Offensive und verwandelte mit einem Schlag sowohl seine Karriere als auch die deutsche Geschichte. Wobei klar sein muß, daß nicht er der „Macher“ der Wiedervereinigung war, auch gar nicht sein konnte.
1990 bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl sehr deutlich und 1994 nur recht knapp im Amt bestätigt, verlor der Pfälzer immer mehr Zustimmung im Volk. Denn das Ausbleiben der von ihm versprochenen „blühenden Landschaften“ in der Ex-DDR und die europäische Währung ohne die nötigen Grundlagen kosteten ihn viel Kredit. Statt seinen bereits ungeduldig werdenden „Kronprinzen“ Wolfgang Schäuble 1998 als Kanzlerkandidat antreten zu lassen, wollte Kohl selbst „es noch einmal wissen“ – und verlor gegen den SPD-Mann Gerhard Schröder. Damit war die Ära Kohl zu Ende – was danach noch kam, zählt nicht mehr zu ihr.
Helmut Kohls am Ende ausgebliebene „geistig-moralische Wende“ war der letzte ernsthafte Versuch, der sich immer mehr ausbreitenden Dominanz der Linken entgegenzutreten. Natürlich ließ auch er realpolitisch vieles von dem geschehen, was er in Reden und Programmen vorgab, kompromißlos bekämpfen zu wollen. Dennoch war er für die Linken ein echter Gegner und kein „Papiertiger“ wie viele Unionsanführer nach ihm. Unter Kohl fanden sich diejenigen bestätigt, die ökonomische Kompetenz bei der CDU/CSU und nirgendwo sonst ansiedelten. Schon unter Angela Merkel, die er selbst ins Zentrum der Macht geholt hatte, erwies sich diese Annahme aber als schlechter Witz, und so ist heute auch der Zustand der deutschen Wirtschaft beschaffen.
Über den Autor:
Dr. phil. Mario Kandil M.A., geb. 1965, studierte in Aachen Mittlere und Neuere Geschichte, Alte Geschichte und Politische Wissenschaft und promovierte in Hagen. Nach langjähriger Tätigkeit im universitären Bereich und in der Erwachsenenbildung heute freier Historiker und Publizist. Forschungsschwerpunkte: Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons I. sowie der Nationalstaaten, Weltkriege und Kalter Krieg.