von Lothar Höbelt
Die Deutschen waren die führende „Nationalität“ der Habsburgermonarchie. Aber sie waren – mit nicht ganz einem Viertel der Bevölkerung – natürlich ebenfalls eine Minderheit. Selbst in der westlichen „Reichshälfte“ – im sogenannten „Cisleithanien“, das erst im Weltkrieg dann auch offiziell die Bezeichnung Österreich erhielt –, betrug ihr Anteil nur 36%, gefolgt von Tschechen (24%), Polen (15%) und Ukrainern (13%). Dennoch konnte man noch bis 1907 zumindest theoretisch von einer deutschen Mehrheit im Abgeordnetenhaus sprechen, im Herrenhaus erst recht. Diese Stellung war auf zwei Faktoren zurückzuführen: das herrschende Kurienwahlrecht, das Besitz und Bildung prämierte – und die umfangreiche Grauzone, die sich auftat, sobald es darum ging, wer denn nun wirklich ein Deutscher sei.
Georg (von) Schönerer wurde berüchtigt, weil er apodiktisch erklärte, Juden – auch wenn sie inzwischen konvertiert waren – könnten nie und nimmer als Deutsche betrachtet werden, unabhängig von ihrer Mutter- oder Umgangssprache. Aus diesem Beharren auf dem Abstammungsprinzip leitet sich der heute zur Allerweltsbeschuldigung verkommene Vorwurf des „Rassismus’“ ab. Doch selbst die Antisemiten unter den Deutschen waren sehr inkonsequente „Rassisten“. Denn wenn tatsächlich die Abstammung als Kriterium für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation galt, dann wären natürlich auch all die Slawen, die im Zuge ihres sozialen Aufstiegs zu Deutsch als Umgangs- und in der nächsten Generation dann auch Muttersprache gewechselt hatten, nicht mehr als Deutsche zu betrachten gewesen. Diesen Zuwachs an sozialen Aufsteigern wollte man aber keineswegs aufs Spiel setzen. Es waren vielmehr die Tschechen, die immer wieder Anträge stellten, tschechische Kinder dürften nicht in deutsche Schulen geschickt und ihrer Nation auf diese Weise entfremdet werden.
„In der Puszta kann man leicht radikal sein“.
Die Habsburgermonarchie war schon 1848 Gefahr gelaufen, auf ihre Völker aufgeteilt zu werden, auf die sogenannten „historischen Nationen“ zumindest, also Deutsche, Italiener, Magyaren, Polen und eventuell noch Kroaten. Für alle diejenigen, die im geschlossenen Sprachgebiet lebten, unter den Deutschen z.B. die Oberösterreicher und Salzburger, war der Wechsel zu einem Nationalstaat keine so abwegige Perspektive. Dort waren am Beginn der parlamentarischen Ära auch politisch die Hochburgen der sogenannten liberalen „Autonomisten“, die sich von Wien als der Metropole eines Vielvölkerstaates möglichst wenig hineinreden lassen und die Beziehungen zu den Deutschen im neu entstehenden Bismarck-Reich möglichst eng gestalten wollten. Auch in Ungarn galt das Schlagwort: „In der Puszta“ – dort wo nur Magyaren lebten – „kann man leicht radikal sein“ und für die „Unabhängigkeitspartei“ stimmen, für die „48er“ – zu unterscheiden von den „67ern“, die sich mit der Krone und dem Reich ausgesöhnt und abgefunden hatten.

Die Sonderrolle der „dominanten Minderheiten“ aus den Sprachinseln
Anders lagen die Verhältnisse für die Minderheiten, die inmitten einer fremdnationalen Umgebung lebten – politisch bedeutsam vor allem für die „dominanten Minderheiten“, die in ihrer Umgebung sozial tonangebend und wirtschaftlich einflußreich waren, bei einer Aufteilung der Monarchie auf ihre Völker aber politisch zwangsläufig unter die Räder kommen mußten. Zu diesen dominanten Minderheiten zählten die deutschen Sprachinseln, von Prag und Pilsen über Brünn und Olmütz, Teschen und Bielitz im Norden zu Pettau und Cilli im Süden bis zu den Siedlern in der Bukowina im Fernen Osten der Monarchie. Die liberale Ära war von diesen dominanten Minderheiten geprägt: Das berühmte „Bürgerministerium“ der Jahre 1868/69 bestand aus zwei Pragern, zwei Politikern aus dem mährischen Schönhengstgau und zwei Aristokraten mit Gütern im tschechischen Gebiet.
Denn zu den dominanten Minderheiten zählte natürlich ein großer Teil des Adels, der deutsch sprach, auch wenn er ursprünglich vielleicht aus Italien oder Lothringen kam oder aus Opposition gegen die Liberalen politisch mit den Tschechen oder Slowenen verbündet war. Auch der liberale, „verfassungstreue“ Adel, der in der Regel mit den Deutschen ging, wurde von Magnaten geführt, die ihre Güter oft nicht im deutschen Gebiet hatten, wie Kaiser Wilhelms II. Freund Max Egon Fürstenberg in Lana oder die Auerspergs in Wlaschim und in der Gottschee, einer Sprachinsel in der Krain, dort wo Deutsche vor 1914 nur noch im Großgrundbesitz vertreten waren. Fürst Auersperg hatte gegen das allgemeine Wahlrecht gestritten. Aber sobald es eingeführt worden war, wählten ihn die Gottscheer prompt in den Reichsrat.
In Ungarn zählten zu den dominanten Minderheiten z.B. Familien wie die Palffys, Forgacs oder Csakys in der heutigen Slowakei, die allesamt die 67er-Parteien unterstützten. In Galizien zählten dazu polnische „Schlachzizen“ wie die Grafen Badeni oder Abrahamowicz, überhaupt die sogenannten „Podolier“, die in Ostgalizien eine dünne Oberschicht stellten. Auch die galizische Hauptstadt Lemberg war eine polnische Sprachinsel, vergleichbar dem deutschen Brünn in Mähren. Dominante Minderheiten waren lange Zeit auch die Italiener in Dalmatien, die sich – anders als in Triest – sehr an die österreichischen Behörden hielten. Denn der Irredentismus war ein allzu gefährliches Spiel in einem Land, das zu über 90 % kroatisch oder serbisch war.
Das (Berufs-)Offizierskorps der k.u.k. Armee war bis zum Ersten Weltkrieg zu drei Vierteln deutsch.
Viele seiner Angehörigen stammten aus Familien, die als „Tornisterkinder“ mit Deutsch aufgewachsen waren. Noch von den drei Generalobersten, die Österreich in der Deutschen Wehrmacht stellte, war Löhr am Unterlauf der Donau aufgewachsen, mit einer ukrainischer Mutter aus Odessa; Lothar Rendulic stammte aus einer kroatischen Offiziersfamilie und Erhard Raus aus Wolframitz in Mähren, haarscharf an der Sprachgrenze. Die großen Zen-
tren der Schwerindustrie befanden sich im tschechischen Gebiet, mit einer weitgehend deutschen Schicht von „Managern“, von Karl Wittgenstein als beherrschender Figur der „Prager Eisen“ bis zu Friedrich Schuster im Rothschildschen Witkowitz bei Mährisch-Ostrau, einem späteren Handelsminister der Republik. Kein Wunder, wenn in Nordmähren sogar ehemalige Schönerianer das Haus Rothschild gegen Vorwürfe der 150%-igen aus den eigenen Reihen in Schutz nahmen: „Die Eisenwerke Gutmanns und Rothschilds in Witkowitz haben in nationaler Beziehung für das nordöstliche Mähren eine Bedeutung, die über jede Diskussion erhaben ist. Kann das Linzer Programm verlangen, daß ein solcher Einfluß bekämpft werde? Diese Logik ist dem Linzer Programm sicherlich ferne gelegen.“
Die Deutschen waren unter den altösterreichischen Eliten überrepräsentiert.
Unter den Deutschen jedoch waren die Alpenländer unterrepräsentiert. Das fehlende Bindeglied zwischen den agilen und aktiven „Sprachinsulanern“ und den Alpenbewohnern waren die Deutschböhmen, die „Randlbehm“ – immerhin mehr als ein Viertel der Deutschen Cisleithaniens, mit einer gewerblich höchst produktiven Städtelandschaft, von Aussig, zeitweise größter Hafen der Monarchie, über Reichenberg als heimliche Hauptstadt Deutschböhmens bis zu Asch und Eger im Westen und Trautenau im Osten. Sie lebten überwiegend im geschlossenen Sprachgebiet und strebten nach der Autonomie Deutschböhmens, aber sie waren in Böhmen eine Minderheit und deshalb Zentralisten, oder, wie ihr politischer Heros Eduard Herbst es einmal formulierte: „Wir alle gravitieren doch nach Wien“.
Der „Kitt des Reiches“
Diese dominanten Minderheiten und die besondere Vorreiterrolle der Sudetendeutschen mit ihrer Produktivität und ihrem dichten Schulnetz waren es, die zusammen mit den gewachsenen Strukturen der Wiener Bürokratie den zahlenmäßigen Vorsprung der Deutschen potenzierten. Sie stellten tatsächlich jenen „Kitt des Reiches“ dar, der seit den 80er-Jahren immer öfter hinterfragt wurde. Profitierten die Deutschen tatsächlich von dieser Führungsrolle – oder subventionierten sie nur die „interessanten Nationalitäten“, die wenig zum gemeinsamen Budget beitrugen? Oder verbarg sich hinter diesem Disput auch eine soziale Dynamik? Zahlte der Mittelstand im geschlossenen Sprachgebiet für das Salär der imperialen Amtsträger, die irgendwo in fernen Landen Karriere machten? Auf Heller und Pfennig nachrechnen läßt sich als das freilich nur sehr schwer. Auf ähnliche Debatten wird man jedenfalls stoßen, wo immer imperiale Strukturen am Werk sind – auch wenn sie sich nicht so nennen …