von Jakob Ungelter
Zwischen der Düna und dem finnischen Meerbusen liegt der geschichtliche Raum, in dem das Land liegt, das vom 13. bis ins 17. Jh. Livland genannt wird. Dort siedeln im frühen Mittelalter Völkerschaften, die einerseits der indogermanischen baltischen Sprachfamilie angehören: die Pruzzen, „Altpreußen“, die früh germanisiert werden und deren Sprache verschwindet, die Litauer und die Stämme der lettischen Sprachgruppe sowie die Kuren, deren Name in „Kurland“ weiterlebt. Andererseits gehören die Esten mit ihrer Sprache der finnisch-ugrischen Sprachgruppe an, ebenso wie die Liven, ein westfinnischer Stamm, dem das Land den Namen „Livland“ verdankt. Das Volk der Liven ist untergegangen, der letzte, dem Livisch noch Muttersprache war, soll 2003 gestorben sein. Die Litauer nahmen eine andere Entwicklung als Livland, politisch und kulturell gravitierten sie früh in den polnisch-moskowitischen Raum.
Das Baltikum wurde spät christianisiert. Ein Ritterorden, die „Livländischen Schwertbrüder“, gegründet 1205, missionierte nach dem Brauch der Zeit mit Bibel und Schwert – nicht ohne Erfolg. Im 12. Jh. wirken die Dänen und gründen Reval, das heutige Talinn, deutsche Kaufleute besuchen die Küste, und ihnen folgen Missionare. Das Hochstift Bremen entsendet Albert, der 1199 Bischof von Livland wird; im selben Jahr ruft der Papst zur Livlandfahrt auf. Bischof Albert ist auch ein tatkräftiger und weitsichtiger Politiker, der später mit dem Deutschen Ritterorden sehr konfliktreich zusammenwirkt. Die Schwertbrüder wurden von den Litauern 1236 vernichtend geschlagen und gingen in der Folge im Deutschen Orden auf, der sich im benachbarten Preußen eben etabliert hatte, nunmehr das Land mit Komteien und Burgen überzog und sich die Herrschaft mit der Kirche etwa im Verhältnis 1:3 teilte, wobei er unter deren formalem Supremat stand.
Die deutsche Besiedelung begann mit der „Aufsegelung“ deutscher Kaufleute auf der unteren Düna. Mit ihnen kam der Augustiner Chorherr Meinhard aus Segeberg, der allein zu missionieren begann und 1184 die erste steinerne Kirche in Livland baute. Die Ordensritter waren Deutsche wie auch die meisten ihrer Vasallen, die ihrerseits Grundherrschaften über die einheimischen Bauern begründeten, deren Freiheiten im Laufe der Zeiten stetig gemindert wurden. In den Städten wie Riga, Reval oder Dorpat, die zunehmend gegen Kirche und Orden an Macht gewannen, siedelten deutsche Kaufleute und Handwerker, die auch die Mehrheit in der Einwohnerschaft stellten. Deutsche Bauern kamen nicht ins Land, sodaß man nicht von einer vollen Kolonisation sprechen kann; die deutsche Besiedelung blieb immer Streusiedlung. Die autochthone Bevölkerung war im politischen Leben kaum bemerkbar.
Riga, 1201 gegründet, war auch Sitz des Erzbischofs und noch im Untergang Altlivlands reichisch gesinnt. In der politischen Geschichte des Ostseeraumes waren die livländischen Positionen kompliziert – zahlreiche Mächte spielten in wechselnden Kombinationen gewichtige Rollen, während das Römisch-Deutsche Reich geringen Einfluß nahm, da es damals andere Sorgen hatte.
Das Ende Alt-Livlands in der Mitte des 17. Jh. wurde von der Reformation eingeleitet, die sich hier rasch durchsetzte und die Autorität der Kirche und des Ordens radikal schwächte. Im benachbarten Preußen hatte ein Hohenzollernhochmeister das Ordensland säkularisiert und es sich unter polnischer Lehenshoheit als Herzogtum unter den Nagel gerissen, Zar Iwan IV. bedrängte Reval. Ein Ausverkauf begann: Der preußische Herzog kaufte Herrschaften, wie auch die Schweden und Dänemarks König. Reval kündigte dem Deutschen Orden die Treue auf und stellte sich unter schwedische Herrschaft, der Landesmeister des Deutschen Ordens Kettler folgt dem Treubruch des Hohenzollers in Preußen und nimmt 1563 Kurland und Semgallen als Herzogtum und polnisches Lehen.
Nur Riga hält noch zwanzig Jahre lang, fühlt sich dem Deutschen Reich zugehörig und strebt den Status einer freien Reichsstadt an. Der Habsburger Ferdinand I. und sein Sohn Maximilian II. haben mit der Stadt – wie auch mit Reval – noch Verbindung gehalten. Der Bürgermeister Jürgen Padel beklagt die Entwicklung in einem Memorial der Ratsdelegierten vom 19. September 1561:
„Deme heiligen Romischen Reich Teutzscher Nation, deme es (…) gleicht wie leib und sehl und alle glieder des leibs mit einander geeinigt, eingeleibt, nuhn leider mit gewalt (…) entrissen, abgeleibet unde entlehnet“. Es drohe die Herrschaft der „barbarisch Unteutschen (…) die den Teutschen niemahls gut gewessen, ihnen alle hertzleit, wie die wissen so unter ihnen wohnen, zutrieben nichts anders von art unde natur angeborn haben, dan aus ihrer inhumanitet dem Teutschen blute zugegen und schedlich sein (…) “.