Monatszeitschrift für Politik, Volkstum und Kultur.

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Der Barock als Kristallisationspunkt der „Kulturnation Österreich“ (Jesuitenkirche in Wien)

Der „österreichische Mensch“ nach 1945

von Lothar Höbelt

Die Deutschen waren die führende Nationalität des alten Österreichs. Doch Österreich konnte – anders als Preußen – nicht einfach in Deutschland aufgehen, weil es auch ein Dutzend anderer Nationalitäten umfaßte. Nach dem Zusammenbruch von 1918 sahen die übriggebliebenen Deutsch-Österreicher dann eine Zeitlang im Anschluß an Berlin das Allheilmittel. Als dieser Anschluß ab 1933 ins Zwielicht geriet, begannen einige Randgruppen, Kommunisten und „Volksmonarchisten“ von der „österreichischen Nation“ zu schwärmen. Die Führung des „Christlichen Ständestaates“, Dollfuß und Schuschnigg, ging dieser Versuchung nicht auf den Leim: Sie propagierte die Österreicher vielmehr als die besseren Deutschen, die sich von totalitären, neuheidnischen Versuchungen frei hielten.

Wer auf Nummer sicher gehen wollte, leugnete jeden Bezug zu Deutschland.

Nach 1945 diktierten die Umstände dann ganz andere Sprachregelungen. Von den Alliierten war für die Feinheiten mitteleuropäischer Geschichte und Identität kein Verständnis zu erwarten. Wer auf Nummer sicher gehen wollte, leugnete daher am besten jeden Bezug zu Deutschland und zog sich auf die These von Österreich als Hitlers erstem Opfer zurück – eine völkerrechtliche Debatte, über die man lange streiten konnte, die über die ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit des Großteils der Bevölkerung aber nichts aussagte. Die Alliierten selbst verschärften ihre Vorbehalte gegen Deutschland vielfach zu einer Anklage, die sich speziell gegen das preußische Erbe richtete. Diese Frontstellung eröffnete den Österreichern und hin und wieder selbst den Rheinländern eine Möglichkeit, eigene Traditionen vor dem Bannfluch zu retten und im antipreußischen Sinne zu instrumentalisieren.

Freilich: Vielfach handelte es sich bei den Österreichern, die jetzt gegen das (Preußisch-)Deutsche ins Treffen geführt wurden, um dieselben, die zehn Jahre vorher als die besseren Deutschen vermarktet worden waren. 1946 feierte man 950 Jahre „Ostarrichi-Urkunde“ – ein Schelm, wer da den Topos der „Ostmark“ hervorleuchten sah, der 1938 an die Stelle Österreichs hatte treten müssen. Österreicher wurden als katholisch und gemütlich vermarktet. Filme der Besatzungszeit endeten gern mit versöhnlichen Szenen im Rahmen eines völkerverbindenden Besäufnisses – meine Frau unterscheidet in diesem Sinne sogar Bier-, Schnaps- und Weinfilme, letztere meist in der Wachau angesiedelt. Schon aus Kommerzgründen wurden in diese Versöhnung aber schon bald auch „Piefkes“ einbezogen.

K.u.k. – Nostalgie, angefangen mit Romy Schneider als „Sisi“, hatte Konjunktur.

„Kitsch as kitsch can“, wie es so schön hieß, aber immer noch weit besser als das, was der ORF seither daraus gemacht hat. Militär trat in erster Linie in der Form von Militärkapellen auf; das Martialische war weniger gefragt. Die altösterreichische Tradition schien immun gegen die Nazis. Geradezu klassisch kommt diese Verbindung mit dem U-Boot-As Ritter von Trapp und seiner musikalischen Familie im Exportschlager Sound of Music zur Geltung, der gleich hinter Salzburg die Schweiz beginnen läßt. Freilich: Die Habsburger selbst hatte die Zweite Republik gerade erst wieder delogiert, als sie es wagten, nach Tirol zu kommen.

Schließlich: Alt-Österreich verkörperte insofern „falsches Bewußtsein“, denn Österreich war nie so exklusiv deutsch gewesen wie nach 1945; es hatte nie so wenige Verbindungen zu den Nachfolgestaaten, zu Tschechen und Ungarn, die jetzt ja hinter dem Eisernen Vorhang lagen. Das Bekenntnis zum republikanischen „Klein“-Österreich ohne Wenn und Aber war 1945 ein Elitenkonsens, der weit über die Große Koalition hinausging und von der KPÖ bis zu Generaloberst Löhr reichte, der seinem Oberbefehlshaber Dönitz noch ausdrücklich das unabhängige Österreich ans Herz legte. Für die Bevölkerung, die 1945 vermutlich auch andere Sorgen quälten als staatsrechtliche Überlegungen, lagen die Dinge noch nicht ganz so eindeutig. Die Amerikaner veranstalteten – wohl nur in ihrer Zone – eine Umfrage, die 15 % für den Anschluß, über 30 % für ein vereintes Europa und immer noch 5 % für eine Donaukonföderation auswarf.

Der „österreichische Mensch“ als Gegenentwurf zu Preußen, Sowjets und Amerikanern

Allerdings: Der österreichische Mensch war nicht allein als Gegenentwurf zum preußischen Militaristen gedacht. Er war zwischen den Zeilen auch als Gegenentwurf zu den barbarischen, kulturlosen neuen Herrenvölkern gedacht, den Sowjets und den Amerikanern. Die „Kulturnation“ war ein Kontrapunkt nicht bloß zur Staatsnation, sondern zu den Imperien, die vermeintlich ohne allzu viel Kultur waren. Literatur war zu sehr an die Sprache gebunden, und die war nun einmal Deutsch. Grillparzer und Nestroy konnten nicht mit Schiller und Goethe konkurrieren. Aber die Musik und was von der Architektur übergeblieben war, zumal das Barock, das in Übersee keine Entsprechung fand, eigneten sich dafür hervorragend. Bekannt ist Adenauers boshaft-bitterer Kommentar, die Österreicher hätten es verstanden, Beethoven zum Österreicher und Hitler zum Deutschen zu machen. Das Salzburg Mozarts war noch nicht Teil Österreichs, aber der Wiederaufstieg der Besiegten ließ sich an den Salzburger Festspielen ablesen, wo Karajan seine Triumphe feierte, dem Mißvergnügen zeitgeistiger Nachgeborener zum Trotz.

Die These von der österreichischen Nation wurde anfangs als Schutzschild rezipiert, dann wieder als überflüssig empfunden. Das „Hurdestanische“, für das Unterrichtsminister Hurdes übrigens genau genommen nichts konnte, verschwand wieder aus den Schulzeugnissen. Hurdes’ Nachfolger Heinrich Drimmel hatte für das nationale Vereinswesen durchaus Sympathien. Die Zugehörigkeit zum deutschen Kulturraum war nicht mehr Anathema. Die Politik wollte sie bloß mit Maß und Ziel gehandhabt wissen. ÖVP-Generalsekretär Alfred Maleta hielt im Wahlkampf 1953 eine Radiorede: „Auch wir wissen, daß unser Burgtheater das älteste deutsche Nationaltheater ist, daß Grillparzer nicht in Unterrichtssprache gedichtet hat. So etwas weiß man. Aber man muß nicht unentwegt davon reden. Sie, meine Hörerinnen und Hörer, werden verstehen, was ich damit sagen will.“

Zwei Jahre später, im Staatsvertragsjahr, ergänzte Maleta intern: „Es fällt den Schweizerdeutschen nicht ein, ihr deutsches Volkstum zu verleugnen. Dennoch fühlen sich alle Schweizer als eine nationale Einheit. Auch wir müssen uns angewöhnen, zwischen Volkstum bzw. Nation im landläufigen Sinne und Staatsnation zu unterscheiden.“ Die Staatsmänner der Sechzigerjahre wußten diesen feinen Unterschied noch zu würdigen. Bundeskanzler Gorbach hielt die Vorstellung einer „österreichischen Nation“ deshalb noch überhaupt für einen Unsinn. Ein wenig spielte sich auf dem Gebiet vielleicht auch ein Flügelkampf innerhalb der ÖVP ab – zwischen Niederösterreich und der Steiermark. Mitte der Sechzigerjahre erhob eine Umfrage ein Ergebnis von 50:50 auf die Frage, ob die Österreicher nicht doch weiterhin der deutschen Kulturnation angehören würden.

Siegeszug des westlichen, etatistischen Nationsbegriffes

Aber in der Bevölkerung griff derlei semantische Differenzierung immer weniger. Der westliche, etatistische Nationsbegriff trat seinen Siegeszug an. Die Debatten zwischen den Österreichern mit dem langen Ö – die unter diesem Zeichen noch in den Neunzigerjahren gegen den EU-Beitritt mobilisierten, darunter auch so manche Kollegen, die heute ganz anders tönen – und den Gralshütern der „deutschen Volks- und Kulturgemeinschaft“ wurden bei gegebenem Anlaß in den Leserbriefspalten der „Presse“ ausgefochten. Doch ihre Resonanz wurde immer geringer. Das Novum bestand in einer Generation, die diese Fragen einfach nicht mehr verstand.

Wieder eine Generation später haben sich die Parameter der Debatte abermals verschoben. Österreich ist in einem hohen Maße wiederum Vielvölkerstaat geworden. Die Zuwanderung ist im Vergleich zur Binnenmigration in den Jahren vor 1918 nicht bloß viel massiver, sondern setzt sich aus Gruppen zusammen, die viel weniger bereit oder in der Lage sind, sich in die autochthone Kultur zu integrieren. Deutsch als Mutter- und Unterrichtssprache hat an Wertschätzung gewonnen, seit es nicht mehr selbstverständlich ist. Der Schlachtruf „Deutsch ist Pflicht“ erfreut sich flächendeckender Beliebtheit – zumindest als unerreichbares Ideal der Pädagogik.

Wer heute mehr Europa fordert, will meist auch, daß Europa weniger europäisch werde.

Auf der anderen Seite ist jener EU-Partner, der sich am hartnäckigsten gegen alle Initiativen sträubt, diese Unterminierung der deutsch-österreichischen Kultur aufzuhalten, ausgerechnet die Bundesrepublik Deutschland, die in gekonnter Schizophrenie zwar bei Rußlanddeutschen die Abstammung zum Kriterium der Einbürgerung macht, jeden Bezug auf ethnisch-kulturelle Merkmale der Identität aber als verfassungsfeindlich bekämpft. Es läßt sich allenthalben das Paradoxon beobachten: Wer mehr Europa fordert, will meist auch, daß Europa weniger europäisch werde. Europa war nach 1945 das Zauberwort, das eine Gemeinschaft aller Deutschen ermöglichte, ohne bei den Siegermächten anzuecken. Heute ist man hingegen oft versucht, sich ein Europa ohne die BRD zu wünschen… ■

Weiterführende Literatur:

Günter Bischof, „Österreich – ein ,geheimer Verbündeter‘ des Westens? Wirtschafts- und sicherheitspolitische Fragen der Integration aus der Sicht der USA“. In: Gehler/Steininger (Hg.), Österreich und die europäische Integration

Lothar Höbelt, Die Zweite Republik Österreich und ihre Besonderheiten

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