Monatszeitschrift für Politik, Volkstum und Kultur.

Der märkische Tolstoi

von Benedikt Kaiser

Kaisers Zone (31)

„Aufarbeitung“ der innerdeutschen Vergangenheit hin oder her: Was zu kurz kommt, ist die Betrachtung der DDR-Historie als Teil unserer Nationalgeschichte. Wenige fragen sich zum Beispiel, was  im ostdeutschen Teilstaat gelesen wurde? Jenseits staatlich verordneter Ideologieproduktion besaß dieses unumstrittene „Leseland“ eine vitale Belletristik, die es verdient, rezipiert zu werden – Lerneffekte über das Sonderbewußtsein „der“ Deutschen im Osten der BRD inbegriffen.

Einer der wichtigsten Autoren der DDR war Erwin Strittmatter, dessen Todestag sich am 31. Januar 2024 zum 30. Mal jährt. Er wurde 1912 in Spremberg (Niederlausitz) geboren und war nach einer Bäckerlehre Geselle im Geschäft seines Vaters, bevor er sich als Kellner, Landarbeiter, Tierpfleger und Schutzpolizist durchschlug. Ab 1945 fand er zum Schreiben. Sein Charakteristikum war, das Landleben in entbehrungsreicher Zeit, eine volksnah-soziale Weltsicht und eine brandenburgische Regionalprägung bei eigenständiger Schreibweise zu vereinen. Seine ersten Veröffentlichungen Ochsenkutscher (1951) und Tinko (1953/54) standen in der Tradition sozialistischer Bildungsromane; sie waren eine Art Anlauf. Neben den erstklassigen Trilogien Der Wundertäter (1957–1980) und Der Laden (1983–1992) war es Ole Bienkopp (1963), womit Strittmatter populär wurde,  eine Abrechnung mit der Parteibürokratie. Damit entfernte sich der angefeindete Autor zunehmend vom „offiziellen Diskurs“ und zog sich auf seinen entlegenen Hof zurück. Dort schrieb er besagte Trilogien, vertiefte sich in Knut Hamsun und fand zu Ernst Jünger.

Als Strittmatter vor 30 Jahren starb, ergriff das viele seiner Ost-Zeitgenossen. Ein Volksschriftsteller war dahingeschieden, für den es, so Wolfgang Emmerich, „in der Alt-Bundesrepublik wohl kein Pendant gibt“. Apropos BRD: Von dieser war Strittmatter kein Freund. Früh ahnte er, die Irrungen des liberalen Westens würden in „ethische, moralische und kulturelle Verrohung“ führen; Massenzuwanderung wäre zudem „Sprengstoff anderer Art“. Die BRD revanchierte sich und wühlte in Strittmatters Polizeivergangenheit in der NS-Endphase. Die Beschädigung war nachhaltig: Seine Heimatstadt Spremberg beschloß, auch zum 100. Geburtstag des Ehrenbürgers keine Würdigung vorzunehmen. Freilich kann jeder Leser Strittmatter selbst würdigen – indem er heute, gegen die Tendenz des Vergessens, zu dessen Werken greift.

Benedikt Kaiser

Über den Autor:
Benedikt Kaiser, Jg. 1987, studierte an der Technischen Universität Chemnitz im Hauptfach Politikwissenschaft. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lektor und Publizist. Kaiser schreibt u.a. für Sezession (BRD), Kommentár (Ungarn) und Tekos (Belgien); für éléments und Nouvelle École (Frankreich) ist er deutscher Korrespondent.

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