von Peter Wassertheurer
In den Jahren 1932 und 1933 erlebte die Sowjetunion eine humanitäre Katastrophe in Form einer Hungersnot, die nach jüngsten Schätzungen ukrainischer und russischer Historiker bis zu acht oder sogar neun Millionen Opfer forderte – davon rund 3,5 Millionen in der Ukraine. Bis zur Wendeära von 1989/90 war dieses dunkle Kapitel der sowjetischen Geschichte im eigenen Land geheimgehalten worden. In den USA, Großbritannien und Italien reagierte indessen die Presse mit dramatischen Artikeln auf die Vorgänge in der sowjetischen Landwirtschaft. Als Washington 1985 einen Bericht zur Hungerkatastrophe zu Beginn der 1930er-Jahre veröffentlichte, griffen die Autoren auf das damalige Quellenmaterial zurück. Auch im Dritten Reich war, wie später noch zu zeigen ist, der Holodomor (Mord durch Hunger) bekannt und wurde in der antisowjetischen NS-Propaganda instrumentalisiert. So stellte Reichskanzler Adolf Hitler am 2. März 1933 in einer Brandrede die Frage, ob der Marxismus als Gesellschaftsmodell tatsächlich in der Lage sei, in der Praxis die Not zu beseitigen. Hitler verneinte und sprach von den Hungertoten in der Ukraine und von der Verelendung von Millionen von Menschen in einem Land, das die Kornkammer Europas sein könnte. Deutsche Ingenieure, Journalisten und Diplomaten waren in der Sowjetunion vor Ort tätig und berichteten über die fatale Versorgungslage der dortigen Bevölkerung. Die zahlreichen Informationen, die über diese Kanäle nach Deutschland gelangten, waren zum Großteil allgemeiner Natur und widmeten sich kaum den deutschen Bevölkerungsgruppen.
Riesige Getreideexporte der Sowjetunion während der Hungersnot im eigenen Land
Die Ursachen für Millionen von Hungerstoten sind nach heutigem Forschungsstand nicht alleine in der mit Brachialgewalt vollzogenen Zwangskollektivierung der ukrainischen Landwirtschaft zu suchen. Die Landwirtschaft sollte nach den Zielen der Bolschewiken die Städte und die Arbeiterschaft in der Schwerindustrie mit den notwendigen Nahrungsmitteln versorgen. Einen wesentlichen Anteil am Holodomor hatten neben der Mißernte von 1929 die Verfolgung des freien ukrainischen Bauerntums und die sowjetische Exportwirtschaft, die trotz angespannter Versorgungslage riesige Mengen Getreide an das Ausland verkaufte – 1931 waren es 5,2 Millionen Tonnen, am Höhepunkt des Holodomors immerhin noch 1,7 Millionen. Stalin wollte mit diesen Devisen seine Schwerindustrie finanzieren. Mit der Zerschlagung bäuerlicher Dorfstrukturen sank allerdings die Produktion, die von den genossenschaftlich organisierten Kolchosen nicht ausgeglichen werden konnte.
Bereits 1925 hatte der Diktator erklärt, daß die Bauernfrage „die Grundlage, die Quintessenz der nationalen Frage“ sei.
Stalin sah im selbstbewußten Bauerntum die Wurzel für nationale Bewegungen innerhalb der Sowjetunion.
Daher galt es, gegen die bäuerliche Bevölkerung vorzugehen. Im Fokus seiner Repressalien stand vor allem die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik, da sie über einen großen bäuerlichen Bevölkerungsanteil verfügte, der sich für nationale Unabhängigkeitsbestrebungen anfällig zeigte. Die massiven bäuerlichen Proteste gegen Getreiderequirierungen von 1930 verstärkten das Mißtrauen der Bolschewiken. Der ukrainische Bauer galt fortan als Feind des Sozialismus’ und wurde in der sowjetischen Propaganda zum Kulaken stigmatisiert. Während der Zarenzeit wurde mit dem Begriff Kulake ein wohlhabender Bauer bezeichnet. Unter dem roten KP-Regime dehnte er sich auf den gesamten Bauernstand aus. Die Folge war eine einsetzende Landflucht. Bauern gingen in die Fabriken, Höfe verwaisten. Für Bauern, die blieben, galten immer höhere Abgabequoten. Stalins Hungerpolitik galt als Mittel der Erziehung und Disziplinierung der Landbevölkerung.
Vom Hungertod war jedoch nicht nur die Ukraine betroffen. Auch im Nordkaukasus, in den Regionen Mittlere und Untere Wolga, wo sich auch die Autonome Republik der Wolgadeutschen befand, sowie in den Steppen Kasachstans wütete der Hunger. Inwieweit erfaßte der Holodomor auch die in den sowjetischen Hungergebieten siedelnden deutschen Volksgruppen? Welche Auswirkungen hatten die repressiven Maßnahmen Moskaus auf die volksdeutschen Bauern in der Ukraine und in anderen Republiken, wo deutsche Bauern lebten?
Deutsche Aktion „Brüder in Not“
Selbstverständlich war auch die deutsche Bevölkerung in der Sowjetunion von Stalins bewußt in Kauf genommener Hungerpolitik betroffen. Deren Auswirkungen konnten durch gezielte Hilfsprogramme aus dem deutschen Mutterland zumindest so weit abgefedert werden, daß ein mit dem in der ukrainischen Bevölkerung vergleichbares Massensterben verhindert wurde. Über die deutsche Botschaft in Moskau, die in der Phase des Holodomors von Herbert von Dirksen geleitet wurde, waren die reichsdeutschen Stellen in Berlin laufend über die Situation der Deutschen in der Ukraine informiert worden.
Bereits 1920 hatte die Sowjetunion eine Hungerkatastrophe erlebt, die dem Ersten Weltkrieg und dem Bürgerkrieg mit dem Zusammenbruch des Zarenreiches geschuldet war. Lenin hatte sich damals an die Weltöffentlichkeit gewandt, um Hilfe zu erhalten. Betroffen vom Nachkriegselend war auch die rußlanddeutsche Volksgruppe. In Berlin wurde 1922 der Reichsausschuß „Brüder in Not“ gegründet, dessen Aufgabe es war, den hungernden rußlanddeutschen Familien im Wolgagebiet und in der Ukraine durch Lieferungen von Nahrungsmitteln zur Seite zu stehen. Organisiert wurde die Unterstützung damals vor allem von kirchlichen Stellen. Mehr als 60 Prozent der Deutschen in der Ukraine waren Lutheraner, knapp 25 Prozent Katholiken. Als drittgrößte Gruppe galten die evangelikalen Mennoniten. Vor allem unter ihnen gab es schon in den 1920er-Jahren eine starke Auswanderungswelle in Richtung USA.
Während des Holodomors von 1931/32 konnte dann auf diese Erfahrung zurückgegriffen werden. Sogenannte Hungerbriefe aus den deutschen Siedlungsgebieten alarmierten das Reich. Abermals übernahmen kirchliche Einrichtungen über die „Aktion Brüder in Not“ eine leitende Aufgabe bei der Herbeischaffung von Hilfsgütern. Wie eng das Netzwerk zwischen den Rußlanddeutschen und der lutherischen und katholischen Kirche geknüpft war, beweisen die Tausenden von Briefen, die während der Hungerkrise Deutschland erreichten. Eine wichtige diplomatische Vermittlerrolle fiel bei der Organisation der Hilfsgüter den reichsdeutschen Konsulaten zu, galt es doch, bei Hilfsmaßnahmen die ideologischen Spannungen zwischen Berlin und Moskau zu berücksichtigen. Andor Hencke lud als deutscher Konsul in Kiew regelmäßig ansässige deutsche Bauern ein, um von ihnen über die Entwicklung in der Landwirtschaft im Zuge der Kollektivierungsmaßnahmen informiert zu werden. Henckes statistische Aufzeichnungen bildeten für das Außenamt in Berlin eine wichtige Grundlage zur Beurteilung der zu erwartenden Ernten in der Ukraine. Berlin konnte daher Vorbereitungen treffen und am Höhepunkt der Hungerkatastrophe rasch und effizient auf die triste Versorgungslage der volksdeutschen Bauernschaft reagieren.
Am 2. November 1932 konnte im Zusammenwirken der Nationalsozialistischen Volkswehrfront mit dem Roten Kreuz ein Hilfswerk für die Rußlanddeutschen initiiert werden. Die materiellen Hilfsgüter und die finanziellen Zuwendungen wurden über die reichsdeutschen Konsulate vor Ort verteilt. Nach Berichten von Ernst Kundt, der als Legationsrat in der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes den Aktionsausschuß für die Hilfeleistungen an die Rußlanddeutschen leitete, wurden bis zum Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges vom Juni 1941 insgesamt mehr als 36.000 Familien beliefert.
An die 50.000 Hungerstote allein unter den Wolgadeutschen
Neben privaten und karitativen Einrichtungen schaltete sich die reichsdeutsche Regierung in die Versorgung der Volksdeutschen in der Sowjetunion ein. Auf Grundlage bilateraler Handelsverträge hatte Berlin große Getreidemengen aus der Sowjetunion zu übernehmen, obwohl für diese 25.000 Tonnen in Deutschland keine Notwendigkeit bestand. Das Getreide blieb folglich in der Sowjetunion und sollte nach Berichten der deutschen Konsulate für die hungernde deutschstämmige Bevölkerung zur Verfügung gestellt werden. Auf jede rußlanddeutsche Familie würde nach amtlichen Berechnungen ein Zentner Getreide entfallen. Die NS-Führung habe, wie das Konsulat in Kiew feststellte, bereits diesbezügliche Pläne ausgearbeitet und werde alle dazu notwendigen Verhandlungen mit den russischen Behörden führen. Es kam allerdings nie zu einer Umsetzung. Einigen tausend Ukraine- und Wolgadeutschen gelang es, 1932 bis an die Reichsgrenze zu ziehen, wo sie bis zum Ende des Holodomors in reichsdeutsche Obhut kamen, ehe sie wieder zurückkehrten.
Zuletzt bleibt noch die Frage zu den deutschen Holodomoropfern in der Ukraine. Die NS-Propaganda sprach von vielen zehntausenden Opfern. Bei dieser Zahlenangabe ist natürlich Vorsicht geboten, da, wie eingangs erwähnt, der Holodomor im Kampf der Ideologien instrumentalisiert wurde. Die genaue Zahl ist unbekannt, für die Ukraine liegt keine vor. Was die Wolgadeutschen angeht, spricht man bis heute von 48.000 Hungertoten.