von Caroline Sommerfeld
Was für ein antiquiertes Thema! Liest man aktuelle Lexika zu Begriffen wie „Volkstum“, „Volkscharakter“, „Volksstämme“ und „Völkertafel“, landet man stets bei dem Hinweis, diese Begriffe seien durch den Nationalsozialismus „verbrannt“ und heute nur mehr eine „Forschungsfrage“. Womit gesagt sein soll: Man nimmt sie nicht mehr ihres Inhaltes wegen ernst, sondern betrachtet sie als überholt, „historisierbar“, nicht mehr sachhaltig. Ich möchte mich dennoch ihrer annehmen, weil sie „Schwundbegriffe“ sind – so schrieb der Historiker Dan Diner einmal über das Wort „Volk“; Begriffe, die im Verschwinden oder Verschwunden sein noch einmal aufleuchten. Etwas an ihnen leuchtet auf, weil es einleuchtet und nicht nur früher einmal rückständigen Ideologen eingeleuchtet hat.
Was ist das Wesenhafte, Typische, Gleichbleibende der Deutschen im Vergleich zu anderen Völkern?
Da der „Volkscharakter“ heutzutage nun einmal kein wissenschaftlicher Begriff mehr ist, lohnt es sich, zurückzublättern im Buch der Geschichte, das alles gleichgültig aufbewahrt bis dahin, wo sich sinnvolle Bestimmungen und Abgrenzungen finden lassen.
So lese ich beim Herausgeber der Werke Johann Georg Hamanns, dem Literaturwissenschaftler Josef Nadler in seinem Werk Die deutschen Stämme (1925), man müsse, um herauszufinden, was den Charakter eines Volksstammes ausmache 1.) Quellenmaterial, 2.) Eigenzeugnisse und 3.) Beweise der historischen Kontinuität beibringen. Ersteres fällt leicht, das weitere ist dadurch erschwert, daß außer in damals allerjüngster Zeit so gut wie keine volkskundliche Reflexion der eigenen Geschichtlichkeit bei den einzelnen Stämmen zu finden ist. „Dazu kommt es immer erst spät, wenn das naive Gemeingefühl sich in steigender Bildung verliert und über sich selbst nachzudenken beginnt“, schreibt Nadler. Die Selbstreflexion ganzer Völker Europas datiert in die Renaissance zurück, ist aber eben nur als Quellenmaterial, nicht als Wissenschaft zu gebrauchen.
Die Grenzen zwischen historischer Quelle, Volksgut, Legende, literarischer Beschreibung, philosophischer Systematik und nachträglicher Vereinnahmung im Interesse einer politischen Stoßrichtung sind fließend, was die Bestimmung erheblich erschwert. Wenn ich aber zurückgehe auf diejenigen Deutschen, die sich ihrer Sache noch völlig sicher waren, als sie sich anschickten, den Charakter ihres Volkes zu erfassen, dann stoße ich auf erfrischend klare Töne, geäußert von Geistesgrößen, die wohl schwerlich vom Zeitgeist als „umstritten“ zur Gänze aussortiert werden können.
Herder und die „fürchterlich blauen Augen“
Johann Gottfried Herder beschreibt 1784 in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, ausgehend vom weiten Weltenall und immer näher auf die Einzelvölker fokussierend, jedes einzelne Volk so genau wie möglich. So genau wie möglich heißt für Herder, nicht nur – wie es damals der „letzte Schrei“ in der Wissenschaft war – als alleinige Erklärung für die Unterschiede zwischen den Völkern das Klima heranzuziehen. Immanuel Kant hielt die „Klimatheorie“ seiner Zeit für eine unzureichende Erklärung des Volkscharakters:
Auch Klima und Boden können den Schlüssel hiezu nicht geben; denn Wanderungen ganzer Völker haben bewiesen, daß sie ihren Charakter durch ihre neuen Wohnsitze nicht veränderten, sondern ihn diesen nur nach Umständen anpaßten. Es liegt nahe, hieraus generell zu schlußfolgern, daß fremde Ansiedler von manchen Sitten vielleicht bald lassen möchten, ihren Charakter, gewissermaßen ihre „Volksseele“ aber so rasch nicht ablegen können.
Herder meint nun, die Deutschen wurden, was sie damals waren, nicht nur durch die „physische und politische Lage“ Deutschlands in der Mitte Europas, sondern auch durch den Widerstand gegen die Römer. Er charakterisiert die alten deutschen Stämme in den nachfolgenden, auf uns Heutige unfreiwillig fast komisch wirkenden Worten:
Ihr großer, starker und schöner Körperbau, ihre fürchterlich blauen Augen wurden von einem Geist der Treue und Enthaltsamkeit beseelt, die sie ihren Obern gehorsam, kühn im Angriff, ausdauernd in Gefahren, mithin andern Völkern, zumal den ausgearteten Römern zum Schutz und Trutz sehr wohlgefällig oder furchtbar machten. Die daraus resultierende „stehende Kriegsverfassung“ brachte der Deutschen „Hauptneigung“ zu ihrem „Hauptbedürfnis, dem Kriege“ hervor.
An dieser Stelle möchte ich einwenden, daß Herder hier vielleicht etwas zu früh den Lauf der Geschichte an einem Höhepunkt enden ließ und diesen für charakteristisch deutsch erklären wollte. Aus dem Typischen der Gegenwart rückzuschließen auf die Zutaten zum allmählichen Zustandekommen dieser Gegenwart, ist das gewöhnliche Vorgehen der Geschichtsschreibung, das aber relativiert werden muß durch den Blick auf weiteren Fortschritt und Niedergang in der Geschichte.
Die Steirische Völkertafel und des Deutschen Lebensende im Wein
Dabei handelt es sich um ein Ölgemälde eines unbekannten Malers, das Anfang des 18. Jh. in der Steiermark entstand, eine bebilderte Zusammenstellung europäischer Völker mit tabellarisch geordneten Zuschreibungen vonjeweils 17 verschiedenen Eigenschaften. Darunter finden sich „Natur Und Eigenschaft“, „Lieben“, „Krigs Tugente“, „Gottesdienst“, „Vergleichung Mit denen Thiren“ und „Ihr Leben Ende“.
Für die Zusammenstellung der Beschreibungen maßgeblich waren nicht nur historische Begegnungen mit Vertretern der jeweiligen fremden Völker oder die Klimazonentheorie, sondern in erster Linie schriftliche Zeitzeugnisse: neben Lexika und ethnographischen Schriften auch Reiseberichte, Briefsammlungen und Spottverse. Hier haben wir die von Nadler gewünschten „Quellen“.
Der Deutsche wird auf der Tafel porträtiert als einer, der in der Kleidung „alles nachmacht“, verschwenderisch ist, gerne trinkt, leicht an der Gicht erkrankt, im Kriege unüberwindlich ist, dazu sehr fromm, als seinen Herrn nur den Kaiser anerkennt, dem Löwen gleicht, Überfluß an Getreide hat und sein Lebensende im Wein findet.
Immanuel Kant: „Der Deutsche fügt sich am leichtesten und dauerhaftesten der Regierung“.
Kant liefert eine herrliche Rechtfertigung dieses damals und bis ins 19. Jh. hinein modischen Genres der schmähenden Völkercharakteristik. In seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) führt er aus, was die europäischen Völker kennzeichne, und jedes bekommt dabei sein Fett weg. Kant begründet dies so:
Ich werde die Zeichnung ihres Portraits etwas mehr von der Seite ihrer Fehler und Abweichung von der Regel als von der schöneren (dabei aber doch auch nicht in Karikatur) entwerfen; denn, außerdem daß die Schmeichelei verdirbt, der Tadel dagegen bessert: So verstößt der Kritiker weniger gegen die Eigenliebe der Menschen, wenn er ihnen ohne Ausnahme bloß ihre Fehler vorrückt, als wenn er durch mehr oder weniger Lobpreisungen nur den Neid der Beurteilten gegeneinander rege macht.
In einer Fußnote desselben Werkes wählt Kant dabei den Umweg über die Beschreibung der europäischen Völker durch fiktive Türken:
Die Türken, welche das christliche Europa Frankestan nennen, würden, wenn sie auf Reisen gingen, um Menschen und ihren Volkscharakter kennenzulernen (…), die Einteilung desselben, nach dem Fehlerhaften in ihrem Charakter gezeichnet, vielleicht auf folgende Art machen: 1. Das Modenland (Frankreich). — 2. Das Land der Launen (England). — 3. Das Ahnenland (Spanien). — 4. Das Prachtland (Italien). — 5. Das Titelland (Deutschland samt Dänemark und Schweden als germanischen Völkern) — 6. Das Herrenland (Polen).
Auch Kant greift also mit der deutschen „Titelsucht“ einen Charakterzug heraus, den man ebenso wie das Kriegerische heute kaum mehr für besonders typisch hält. Allenfalls könnte man das Vertrauen in „Experten“, das bei jeder Krise immer wieder dieselben fröhlichen Urstände feiert, damit in Verbindung bringen. Das nun Folgende ist indes niederschmetternd zeitlos, und ich mag meinen Landsleuten von Herzen wünschen, daß sie „der Tadel bessert“: Der Deutsche fügt sich unter allen zivilisierten Völkern am leichtesten und dauerhaftesten der Regierung, unter der er ist, und ist am meisten von Neuerungssucht und Widersetzlichkeit gegen die eingeführte Ordnung entfernt. Sein Charakter ist mit Verstand verbundenes Phlegma, ohne weder über die schon eingeführte zu vernünfteln noch sich selbst eine auszudenken.