von Jonathan Stumpf
Wer sich an einem Mittwochabend in der ukrainischen Hafenstadt Odessa in den „Pab Tovstun“ begibt, kann dort durstige Deutsche in geselliger Runde beim Bier sitzen sehen, als wäre er in Freiburg oder München. Es ist ein richtiger Stammtisch mit Schild und – da man sich im Ausland befindet – schwarz-rot-goldenem Fähnchen. Eine der Besucherinnen hat heute einen Ehrengast dabei: ihren neuen Hund. Der Labradorwelpe ist der Star des Abends und wird von der versammelten Mannschaft getätschelt. Die Hundehalterin ist allerdings selbst eine Kuriosität, weil sie zu den wenigen weiblichen deutschen „Expats“ in der Stadt gehört, das heißt, sie ist eigentlich Ukrainerin, hat aber so lange in Deutschland gelebt, daß sie Deutsch spricht wie eine Eingeborene aus dem Pott.
Sonst handelt es sich bei den deutschen Stammtischbesuchern fast durchwegs um Männer, die allerdings teilweise ihre ukrainischen Freundinnen oder Ehefrauen dabeihaben. Auch Ukrainerinnen, die etwa für deutsche Firmen arbeiten oder generell ihre Deutschkenntnisse ausbauen möchten, kann man beim Stammtisch treffen. Daß es in Kriegszeiten weniger weibliche Besucher und Auswanderer nach Odessa zieht, ist verständlich. Bei zwei Stammtischbrüdern sind unlängst zuhause sämtliche Scheiben rausgeflogen, als zwei russische Raketen in ein benachbartes Hotel eingeschlagen haben. Ich schreibe bewußt „rausgeflogen“, weil die Scheiben beschichtet waren, um nicht zu zerbersten. Jemand gibt den Tip, die schweren Vorhänge im Hotel ganz zuzuziehen, da herumfliegende Glassplitter die größte Gefahr darstellen würden. In den Luftschutzbunker geht hier niemand mehr. Der Investmentbanker, der neben mir sitzt, sagt: „Ich gehe auch nicht in den Keller. Wenn was einschlägt, will ich gleich tot sein, nicht verschüttet.“ „Ich auch“, sage ich. Darauf stoßen wir an.
Die Meinungsvielfalt am Stammtisch ist beinahe grenzenlos, nur in der Verurteilung des russischen Angriffskrieges ist man sich einig.
Beim Bier wird, wie das auch in der Heimat üblich ist, über Gott und die Welt philosophiert. Allerdings bringen die Umstände es mit sich, daß hier so viele unterschiedliche Meinungen, Standpunkte und Ansichten aufeinandertreffen, wie man es in der BRD, Österreich oder der Schweiz wahrscheinlich nirgendwo erleben kann. Der Stammtisch ist im besten Sinne divers. Die Meinungsvielfalt ist beinahe grenzenlos, nur in der Verurteilung des russischen Angriffskrieges ist man sich einig. Die Mehrheit der Gäste ist wahrscheinlich liberal-konservativ zu verorten. Mancher hier wünscht sich einen schlankeren Staat oder sogar Reformen mit der Kettensäge nach Art von Milei und Musk. Aber es gibt unter dem Stammtischstammpersonal beispielsweise auch einen ehemaligen Trotzkisten – heute sei er nur noch Hedonist, scherzt er – und einen stramm Rechten, der eine Vorliebe für bedruckte T-Shirts zu haben scheint, die in der Heimat das Interesse der politischen Polizei erregen würden. Trotzdem sind sich untereinander alle grün. Ein kleines Utopia, wenn man so möchte. Jedenfalls aus liberaler Perspektive.
Das Bildungsniveau der „Expats“ ist überdurchschnittlich hoch.
Da ist kaum jemand, der nicht mindestens einen Magistertitel oder ein Diplom vorweisen könnte. Einer der Stammtischbrüder hat sogar an zahlreichen Eliteuniversitäten im Ausland studiert, so auch in Harvard. Auf der Internetseite des Stammtisches heißt es über die Klientel: „Hier treffen sich deutschsprachige Odessiten, arbeitende Deutsche, Österreicher, Schweizer, Besucher der Stadt aus Deutschland, Menschen, die irgendeine Verbindung zu Deutschland oder zur deutschen Sprache haben etc.“ In die letzte Kategorie fällt etwa ein estnischer Schriftsteller, der in der Ukraine lebt und in Deutschland studiert hat. Eines seiner Bücher ist sogar auf Deutsch erschienen. Es trägt den Titel Am Ende der gestohlenen Zeit. Über den Stammtisch hat er einmal geschrieben: „Meistens bilden die einheimischen Deutschen und die regelmäßigen Besucher eine tolerante Gruppe. Sie stehen sich gegenseitig mit Rat und Tat zur Seite und sind viel verständnisvoller, als sie es zu Hause oder in ihrer ‚natürlichen‘ Umgebung wahrscheinlich wären …“ Zu den regelmäßigen Besuchern gehört auch ein ehemaliger Hauptmann der Bundeswehr, seines Zeichens Landwirt, der zu Beginn des Jahres seine achtzehnte Hilfslieferung in die Ukraine organisiert hat. Mit dabei: ein ganzer 30-Tonner voller Eßpakete! Außerdem Nachtsichtgeräte, Drohnen, Generatoren und anderes dringend benötigte Material. Und ebenfalls zur Gruppe der regelmäßigen Besucher gehört ein lutherischer Diakon, der an hohen Festtagen die hiesige Gemeinde unterstützt – so ist auch für das Seelenheil der Deutschen in Odessa gesorgt.