Das rote Preußen

von Benedikt Kaiser

Kaisers Zone (25)

Als explizit „preußische“ Armee hat man die Nationale Volksarmee (NVA) der DDR oftmals wahrgenommen. Uniform, Helm, Drill, Marschmusik und das klassische Feldgrau, das man noch von der Wehrmacht kannte, knüpften an preußische Militärtraditionen an. Und das in einem Staat, der sich in Anlehnung an Sowjetrußland einen bewußt „antifaschistischen“ Gründungsmythos verpaßte und den totalen Neubeginn nach dem 8./9. Mai 1945 fetischisierte. In der Tat gab es in der DDR auch über Jahrzehnte hinweg ein offiziell kritisches Bild der deutschen Militärgeschichte. Zu großdeutsch und zu imperialistisch, den besitzenden Klassen ergeben und nicht dem Volk – mit derartigen Anwürfen negierte man Kontinuitätslinien von Reichswehr und Wehrmacht. Das entsprach aber stärker einer parteioffiziös gewünschten Propagandadarstellung denn der faktischen Realität. Ausgerechnet eine österreichische Fernsehdokumentation erinnert heute an diesen Umstand.

Bei YouTube („Im Stechschritt für den Sozialismus – Über den militärischen Alltag der DDR-Volksarmee, ORF 1989“) läßt sich bis heute eine einzigartige TV-Sendung einsehen. Eine Dreiviertelstunde lang dürfen ORF-Journalisten mit NVA-Wehrpflichtigen und -Leitwölfen Interviews führen, sowjetische „Waffenbrüder“ abfilmen und den Alltag der DDR-Soldaten porträtieren. Zur Geltung kommt insbesondere die Intervention der herrschenden Partei, der SED, vermittels ihrer Politikkommissare, die nah am Soldaten blieben, um die ideologische Linientreue der Waffenträger zu kontrollieren. So weit, so erwartbar.

Zwei Dinge aber sind hervorzuheben, mit denen der geneigte Zuseher, sofern er politisch konservativ beheimatet ist und gängigen Stereotypen über die DDR gegenüber aufgeschlossen sein sollte, vielleicht nicht gerechnet hätte:

Erstens ist dies die Traditionsanrufung durch Prof. Dr. Paul Heider. Der einflußreiche NVA-Forscher war zum Zeitpunkt des Interviews Direktor des Militärgeschichtlichen Instituts der DDR. Er verweist im Gespräch auf positive Anknüpfungspunkte der deutschen Geschichte, nennt „Volkskämpfe“ und „Befreiungsbewegungen“ als Inspirationen, bevor er namentlich Gneisenau, Scharnhorst und Clausewitz hervorhebt. Ihre Namen schmückten Kasernentore; sie stünden für die fortschrittliche nationale Traditionslinie und gerade nicht für einen radikalen Bruch: „Wir stellen uns dem Erbe der gesamten deutschen Geschichte. Und damit bewerten wir auch frühere Herrscher wie etwa Friedrich II. differenziert.“

Zweitens hebt Paul Heider hervor, was ein führender BRD-Historiker an seiner Stelle nicht geäußert hätte. Als der NVA-Oberst nämlich vom ORF gefragt wird, was er empfinde, wenn er an Deutschland denke, erwidert der in Schlesien geborene Mann: „Deutschland existiert in diesem Sinne und in dieser Begrifflichkeit nicht mehr. Das Deutsche Reich ist aufgrund der Politik der herrschenden Klassen 1945 untergangen, als Ergebnis des Krieges. Nicht wir […] wollten zwei deutsche Staaten. […]. Aber die Geschichte ist anders verlaufen, und so stellen wir uns den Realitäten, wie sie heute sind. Da existieren – wenn ich Österreich jetzt nicht dazu zähle – eben zwei deutsche Staaten.“ Nimmt man das Augenzwinkern bei „Österreich“ wahr, darf man getrost davon ausgehen, daß es für Paul Heider durchaus drei deutsche Staaten gab. Für einen hochrangigen Kommunisten aus der „Zone“ ist das durchaus bemerkenswert.

Über den Autor:
Benedikt Kaiser, Jg. 1987, studierte an der Technischen Universität Chemnitz im Hauptfach Politikwissenschaft. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lektor und Publizist. Kaiser schreibt u.a. für Sezession (BRD), Kommentár (Ungarn) und Tekos (Belgien); für éléments und Nouvelle École (Frankreich) ist er deutscher Korrespondent.

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