von Karlheinz Klement
Warum ist das Kärntner Lied in der österreichischen Musikwelt etwas besonderes und warum halten sich Kärntner Chöre – entgegen gegenteiliger Entwicklungen in deutschen Landen – erstaunlich lebendig?
Friedrich Nietzsche sagte einmal: „Ohne die Musik wäre das Leben ein Irrtum!“. Und so ähnlich verhält es sich auch mit einer Kärntner Sage, welche auf den Beginn des Kärntner Liedes zurückführt.
Die Sage zur Entstehung des Kärntner Liedes
Die Bauern, Knechte und Mägde hatten einst ein sehr hartes und karges Leben. Ohne maschinelle Unterstützung, oft nur mit der Kraft der bloßen Hände galt es, die Äcker, Wiesen und Wälder zu bestellen. Von früh bis abends waren die Kärntner Landbewohner unterwegs, um ihr karges Dasein zu erhalten – ohne große Freuden, jedoch mit großen Entbehrungen. Da geschah an einem Sommerabend etwas Zauberhaftes, das diesen braven Leuten für immer im Gedächtnis bleiben sollte. Aus den Wolken herab stieg ein wunderbares Wesen. Es gab wunderbare Klänge von sich, die vorher noch nicht gehört worden waren. Dieses Feenwesen setzte sich zu den Bauern, Knechten und Mägden und sang Lieder, welche tief ins Herz gingen. In den folgenden Tagen kam dieses Feenwesen immer wieder, sang Lieder, und es entstand eine tiefe Verbundenheit. Nach einigen Wochen sprach die Fee, es sei Zeit, in andere Lande zu ziehen, um den Menschen auch dort den Gesang zu bringen. Die Kärntner Landsleute waren betroffen – was sollten sie denn ohne den Gesang dieses zauberhaften Wesens machen? Die Fee strahlte und sagte: „Liebe Kärntner, ich habe euch den Gesang gebracht, nun singt, wie ich es tue!“. Die Fee entschwand in ihr Wolkenreich und ward nicht mehr gesehen. Die Kärntner aber machten nun genau das, was ihnen geboten worden war. Sie sangen zur Arbeit, sie sangen zur Abendzeit und schließlich zu allen Gelegenheiten, die das Leben so bot. Das göttliche Geschenk des Liedes und des gemeinsamen Gesanges war von jener Zeit an den Kärntnern ins Herz gegeben, und sie gaben es nicht mehr her.
Die Anfänge des Kärntnerliedes
Was kann die Sage nicht, genauso wenig wie die Musikwissenschaft? Eine Datierung der Ursprünge des Kärntner Liedes bieten. Es gibt keine genauen Aufzeichnungen, wann die Kärntner mit ihrem typischen Gesang begannen. Es gibt aber Aufzeichnungen über die Entwicklungen im 19. Jh., als die ersten großen Kärntner Männerchöre gegründet wurden. Meistens wurde zu jener Zeit der einfache Kärntner Dreigesang vorgetragen, mit Hauptstimme, Überschlag und dem „Dritten“. Das heißt, die Hauptstimme übernahm eine mittelhohe Stimme – im heutigen Männerchor entspricht das dem zweiten Tenor; den Überschlag sang ein hoher Tenor, der sich in einfachen Terzenfolgen dazugesellte. Schwieriger hatte es der sogenannte „Dritte“, der dem heutigen ersten Baß entsprechend in der Lage sein mußte, Harmonien zu ergänzen. Erst viel später, zu Beginn des 20. Jh., kam der zweite Baß dazu, der in einfachen Tonfolgen diese Kadenzen vervollständigte.
Die weitere Entwicklung des Kärntner Liedes an der Schwelle des 20. Jahrhunderts
Das Ende des 19. und der Anfang des 20. Jh. waren für die weitere Entwicklung des Kärntner Liedes von einschneidender Bedeutung. Thomas Koschat, ein junger Bursche aus Klagenfurt-Viktring, der auf Wunsch seines Vaters eigentlich Pfarrer werden sollte und später in Wien am Chemiestudium scheiterte, widmete sich voller Inbrunst dem Kärntner Lied und begann auf seine ihm besondere Art, Kärntner Lieder zu setzen. Koschat wurde Bassist an der Wiener Hofoper, sein Werk Valâss’n wurde in achtzehn Sprachen übersetzt, sein Schneewalzer wird heute noch überall gespielt. Koschats Impulse für das Kärntner Lied waren grundlegend und bewirkten die Einführung des fünfstimmigen Gesanges sowie die Entwicklung des Sologesanges.
Das alte Kärntner Lied
Das alte Kärntner Lied ist in seiner Ausdrucksform einzigartig, es verbindet in einfachen Melodien und Harmonien Lebensweisheit, Liebe zur Heimat und Treue zum Vaterland. Die Themen sind vielfältig; gesungen wird über alles, was den Menschen bewegt. So gibt es im echten Kärntner Kulturgut Lieder über die Arbeit, über die Schönheiten des Landes, zu Festen des Jahres, über die Liebe usw. Interessant sind die vielen Aphorismen und versteckten Anspielungen, die man nur mitbekommt, wenn man sehr genau zuhört und zwischen den Zeilen liest – eine Eigenheit, die dem Neuen Kärntner Lied fast vollkommen abhanden gekommen ist. Gesungen wurde vor allem nach Gehör, Notenblätter gab es nicht. Das barg natürlich die Gefahr in sich, daß vieles verlorenginge.
Einer göttlichen Fügung ist es zu verdanken, daß sich in der Zwischenkriegszeit einige besondere Persönlichkeiten hervortaten, die quer durchs Land zogen, um das Kärntner Lied vor dem Vergessen zu bewahren. Volksmusiker wie Hans Wiegele, Andreas Asenbauer, Hans Neckheim oder Anton Anderluh begaben sich in die Täler Kärntens und ließen sich von den dort Ansässigen alte Lieder und Gstanzln vorsingen. Aus den Sammlungen dieser Herren können wir in Kärnten heute noch auf ein breites Liedgut zurückgreifen, das dem weitverbreiteten Klischee, wonach das Kärntner Lied grundlegend ein trauriges sei, eindeutig widerspricht. Das echte Kärntner Lied ist vor allem ein lustiges und humorvolles, das bei der Arbeit, beim Fuhrwerken, nach der Jagd und natürlich beim gemütlichen Zusammensitzen gesungen wurde.
Das neue Kärntner Lied
Dieses hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt und wurde vorerst getragen von sogenannten Kreisen wie dem Spittaler Kreis, dem St. Veiter Kreis und vielen anderen, mit herausragenden Dichtern und Komponisten wie z.B. Mittergradnegger, Glawischnig, Mulle und Schmid. Wer dazu einen näheren Einblick gewinnen möchte, dem sei ein Besuch in St. Oswald / Gemeinde Eberstein im dortigen Volksliedhaus empfohlen, im Netz unter volksliedhaus-eberstein.at zu finden. Nach dem zweiten Weltkrieg entstanden auch die sogenannten Gemischten Chöre, also Chöre in der vierstimmigen Besetzung Sopran, Alt, Tenor und Baß. Der große Aufschwung, den die vielen Gemischten Chöre mit sich brachten, führte dazu, daß das „singende Kärnten“ auch zahlenmäßig größer wurde.
Die Zukunft des Kärntner Liedes
Bedingt durch die Einschränkungen der Corona-Zeit kam es auch im Kärntner Liedwesen zu starken Einbrüchen. Das Singen war nur unter strengen Auflagen erlaubt, in Schulen nur mit Maske! Das führte dazu, daß einige Chöre ihre Tätigkeit einstellten, verbunden mit einem Rückgang der Zahl von aktiven Sängern in Kärnten.
Noch in den 1960er- bis in die 1980er-Jahre waren Schulchöre eine Selbstverständlichkeit, und es war selbstredend, daß junge Schüler Grundbegriffe des Gesanges lernten, verbunden mit einer Auswahl an echten Heimat- und Volksliedern. Wenn wir heute in die Schulen blicken, müssen wir leider mit Erschrecken feststellen, daß dem Gesang viel zu wenig Bedeutung zugemessen wird und die Schüler großteils keine Ahnung mehr von unseren Volksliedern haben. Das ist für die Kärntner Chöre eine Belastung und ein großes Hindernis, an junge Sänger zu kommen. Überraschenderweise ist es in den letzten Jahren trotzdem zu beobachten, daß sehr viele junge Menschen auch ohne schulische Vorkenntnisse den Weg zu Chören finden. Dies führt zur Antwort auf wesentliche Fragen zum Kärntner Lied.
Warum hat das Kärntner Lied diesen unverwechselbaren Klang?
Kärnten ist geographisch ein abgeschlossener Raum, umgeben von Gebirgszügen. Diese Abgeschlossenheit hat zur Ausprägung des „Kärntner Gemüts“ geführt – auf der einen Seite melancholisch, auf der anderen Seite herzlich und lebensfroh. Der Kärntner Dialekt ist unverkennbar in seiner Weichheit. Auch wenn er in jedem Tal andere Feinheiten hat, so ist er doch unverkennbar. Das war und ist maßgeblich für das Kärntner Lied.
Warum hat sich in Kärnten das Chorwesen so gut erhalten – und warum in anderen Bundesländern nicht?
Zu den bereits angeführten Hintergründen kommen sicherlich noch weitere dazu. Anzuführen ist dabei, daß Kärnten eine Grenzregion ist und dadurch im ständigen Kontakt zu den Nachbarländern Italien und Slowenien steht. Durch dieses ständige Abgleichen der Identität ist natürlich der Blick nach außen wie auch nach innen gerichtet. Was machen wir, was machen die anderen? Nur wer eine eigene Identität hat, kann sich von anderen Identitäten abgrenzen. Nur wer eine eigene Kultur besitzt und pflegt, kann zu einem befruchtenden Austausch mit anderen Kulturen kommen. Kulturlose Menschen und Nationen gehen irgendwann im Identitätsvakuum unter. Der Kärntner ist stolz auf seine Kultur und kann daher offen für andere Kulturen sein.
Welches schönere Markenzeichen kann sich ein Land wünschen, als schon anhand seiner Lieder erkannt zu werden? Es kann kein schöneres geben, und dieses Markenzeichen möge den Kärntnern erhalten bleiben: für alle kommenden Generationen von Kärntnern und all jene Menschen, die Kärnten gerne besuchen!
Über den Autor:
Diplomingenieur Karlheinz Klement ist Chorleiter der Sängerrunde Klagenfurt-Emmersdorf (Bild), eines Männerchores, der seit seiner Gründung im Jahre 1869 das Kärntner Lied weit über die Grenzen des Heimatlandes hinausträgt. Die Sängerrunde wurde u.a. mit dem Kärntner Landeswappen, dem Klagenfurter Stadtwappen sowie der Walther von der Vogelweide-Medaille in Gold ausgezeichnet. Näheres unter liedertafel.info.