Kaiser Rudolf II.
Wikimedia Commons, Dennis Jarvis

Das deutsche Prag

Jacob Ungelter

„Das zweisprachige Prag ist gewesen. Es ist so jäh gestorben, daß mancher wähnen möchte, die Zeit sei stehen geblieben hinter dem Leben, das dort von den Deutschen geführt und in Werke gefaßt worden ist.“

So beginnt Herbert Cysarz, ehemals Germanist an der Prager Universität, 1960 seine Studie Prag im deutschen Geistesleben. Es ist eine Sache intellektueller Redlichkeit und Pietät, immer wieder die Rolle der Deutschen in Profil und Gestalt der alten Stadt im Bewußtsein lebendig zu halten.

Im 9. Jahrhundert von Slawen auf keltisch-germanischem Siedlungsboden gegründet ließen sich im 13. Jahrhundert deutsche Kaufleute auf dem Gebiet um die heutige Teynkirche nieder, denen in der Folge meist von den böhmischen Herzögen und später Königen gerufene Siedler nicht nur in Prag, sondern in vielen anderen böhmischen Gebieten folgten. Schon früh brachten sie deutsche und europäische Kultur in das Land, wobei das Deutsche bald als zweite Kultur- und Verkehrssprache prägend wurde – bereits unter dem Przemisliden, vor allem aber unter den Luxemburgern, die im 14. und 15. Jahrhundert das Land regierten. 973 wurde Prag Bischofssitz und der Sachse Dietmar der erste Bischof. Kaiser Karl IV., in Frankreich erzogen, vergrößerte die Macht und Kultur Böhmens entscheidend; man nannte ihn später „Böhmens Vater und des Reiches Erzstiefvater“, was seinem Wirken als Kaiser zwar nicht gerecht wird, aber sein Engagement für das Gedeihen Böhmens unterstreicht. Prag wurde zu einer bedeutenden europäischen Stadt, die unter vielen anderen Cola di Rienzi, Petrarca oder Aenaes Silvio Piccolomini anzog. 1348 gründete Karl die erste Universität Mitteleuropas, die man nicht ganz zu recht als erste deutsche Universität bezeichnete, da Universitäten zu dieser Zeit in Sprache, Anspruch und Personal durchwegs lateinisch-„international“ ausgerichtet waren. Lehrer und Studenten kamen indes in großem Umfang aus dem deutschen Kulturraum. Die Studentenschaft war in „Nationen“ organisiert: in die bayerische, sächsische, polnische und böhmische Nation.

Die Konkurrenz der Deutschen zu den Tschechen führte bald zu ersten ethnischen Konflikten, die in verschiedener Intensität nie mehr aufhören sollten.

Schon im 14. Jahrhundert ist Dalimils Chronik von Böhmen voller Ausfälle gegen die Deutschen. 1409 erließ König Wenzel IV. das Kuttenberger Dekret, das den Einfluß der Deutschen zugunsten der Böhmen radikal veränderte, worauf ein großer Teil der Studenten und Dozenten – rund 80% von ihnen waren Deutsche – die Stadt verließ, um nach Leipzig an die dort neu gegründete Hochschule zu ziehen. Die Vorreformation führte in Böhmen und in Prag nicht nur zur religiösen, sondern auch ethnischen radikalen Auseinandersetzung. Konrad von Waldhausen kam aus Wien und predigte im Sinne Wiclifs, ihm folgte Jan Hus, der auf dem Scheiterhaufen in Konstanz als Ketzer endete. Die Hussiten und Taboriten waren vorwiegend Tschechen, die sich auch gegen die Deutschen wandten und das Land jahrzehntelang verheerten.1526 erbten die Habsburger die böhmischen Erblande.

Der in Wien geborene und in Spanien erzogene deutsche Rudolf II. bringt Prag zur kulturellen Hochblüte.

Seine eifrige Sammeltätigkeit zog Künstler nach Prag, wo in der Malerei eine manieristische Schule mit Malern wie Hans von Aachen entstand. In der Wissenschaft wirkten Tycho Brahe und Johannes Kepler – den Kaiser zog das Okkulte über die Astrologie und die ihr damals nahestehende Astronomie an. Nach Rudolfs Tod setzte die Tragödie ein. Die evangelischen Stände wählten Friedrich von der Pfalz zum König, der in der Schlacht vom Weißen Berg den Habsburgern unterlag, die nach einem Strafgericht dem Land eine streng absolutistische Landesordnung auferlegten. Das diesbezügliche Trauma der Tschechen wird bis ins frühe 20. Jahrhundert nachwirken. Der Prager Fenstersturz war der Auftakt zum Dreißigjährigen Krieg.

Karlsbrücke und Veitsdom – Schöpfungen des deutschen Baumeisters Peter Parler
Georg Milasta/stock.adobe.com

Den architektonischen Ausbau der Stadt in der Gotik prägten nicht nur im Veitsdom der Schwabe Peter Parler und Benedikt Ried, von dem auch die Kuttenberger Barbarakirche stammt. Im Barock dominierte die fränkische Familie Dientzenhofer; der Tiroler Bildhauer Matthias Braun, auch der Maler Maulpertsch schufen große Werke und bildeten daneben den Nachwuchs lokaler deutscher und tschechischer Künstler. Was die Musik angeht, waren die Prager immer Enthusiasten: Mozart führte hier seinen Don Giovanni auf, der Nordböhme Christoph Willibald Gluck wirkte hier ebenso wie Carl Maria von Weber, der 1813 Operndirektor wurde. Die tschechische Musikentwicklung verdankt vieles dem deutschen Einfluß: Antonin Dvořák wurde von Brahms gefördert, Bedrich Smetana, auch er Spätromantiker, schuf mit dem Welterfolg Die verkaufte Braut eine Art tschechische Nationaloper.

Früh zog die deutsche Literatur in Prag ein, die deutschen Minnesänger sangen am Hof, und Johannes von Tepl schrieb das große Gedicht vom Ackermann und dem Tod. Nach einer gewissen literarischen Dürre in der Aufklärung wurden im frühen 19. Jahrhundert die Romantiker in Prag gefeiert. Clemens von Brentano war hier und schrieb sein Schauspiel über die Gründung Prags – wie später Grillparzer seine Libussa. Joseph von Eichendorff, Fouqué, Zacharias Werner und Heinrich von Kleist hielten sich in Prag auf, auch der Freiherr vom Stein und Gneisenau. Nur sieben Jahre nach dem Wiener Burgtheater öffnete das Prager Nationaltheater, später Ständetheater genannt, mit Lessings Emilia Galotti seine Pforten. Die Prager unterhielten ein reges Theaterleben, das jüdische Publikum zählte zu seinen Stützen.

Der Beginn des 20. Jahrhunderts bringt einen Höhepunkt der deutschen Literatur Prags.

Hadwiger, Salus, Leppin, der blinde Oskar Baum, Pollak, Brod, Werfel, Kisch und Kafka – sie alle schreiben Deutsch. Rilke wird in Prag geboren, der gebürtige Wiener Gustav Meyrink feiert mit seinem Roman Der Golem, der das mystische Prag beschwört, großen Erfolg. Der Iglauer Hans Karl Strobl beschreibt in einem Romanzyklus die nationalen Wirren, die auch die deutsche Studentenschaft unter harten Druck setzen, die vorwiegend in schlagenden Korporationen organisiert ist.

Das tschechische nationale Bewußtsein, auch von den Ideen Johann Gottfried Herders beflügelt, wird zunehmend aggressiv. Ab 1848 brechen die Gemeinsamkeiten auseinander. In diesem Jahr findet in Prag ein großer Panslawisten-Kongreß statt: die Kongreßsprache allerdings ist Deutsch. Die Technische Hochschule wird in eine deutsche und eine tschechische Hochschule aufgespaltet, wie 1882 auch die ehrwürdige Universität. 1872 gratuliert der Prager Rektor Höfler der neugegründeten Deutschen Universität in Straßburg – die tschechischen Studenten distanzieren sich davon in einem Brief nach Paris. Die deutsche Prager Universität sieht sich als legitime Nachfolgerin der Carolina und bewahrt auch deren alte Insignien, die sie nach heftigen Kämpfen in der späteren tschechischen Republik herausgeben muß.

Die neue Republik ist ein Vielvölkerstaat mit 43% Tschechen, 23% Deutschen, 22% Slowaken und 4% Juden. Die Juden bilden seit dem Mittelalter eine bedeutende Gemeinde, die zahlreiche Verfolgungen übersteht, die bis zuletzt bedeutende kulturelle Beiträge leistet und sich mehrheitlich zu den Deutschen zählte. Auf dem neuen jüdischen Prager Friedhof finden sich vornehmlich deutsche, dann hebräische und nur wenige tschechische Inschriften.

Unauslöschliche Spuren des Vergangenen

Durch den Zuzug der Tschechen wurden die Deutschen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend marginalisiert. Die rücksichtslose Behandlung der Deutschen in der neuen Tschechischen Republik ab 1919 und die deutsche Herrschaft in Prag ab 1939 zerstörten das Verhältnis der Volksgruppen vollends. Repressalien, wie die Vernichtung des Dorfes Lidice, folgten 1945 die grausame Verfolgung und Vertreibung der Deutschen.

Das deutsche Prag gibt es nicht mehr, aber seine Spur ist unauslöschlich.

Herbert Cysarz
Prag im deutschen Geistesleben
Karolinger, 112 S., € 18

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