Alter Sitzungssaal des böhmischen Landtags, dem für die Zusammensetzung des Parlamentes der Habsburgermonarchie entscheidende Bedeutung zukam
Flickr, Francesco Gasparetti

Das deutsche Casino in Prag

von Lothar Höbelt

Der mächtigste Verein der Monarchie

Prag galt als die „Hauptstadt“ des Reiches, sprich als die Residenz des Kaisers, unter dem Luxemburger Karl IV., der heute noch auf tschechischen Banknoten zu bewundern ist, was sehr für das historische Bewußtsein unserer Nachbarn spricht: Wo waren Rudolf der Stifter, Karl V. oder Maria Theresia selbst vor Einführung des Euros auf unseren Banknoten? Von seiner Erziehung her war Karl IV. freilich weder ein Deutscher noch ein Tscheche, sondern am ehesten ein Franzose. Bekanntlich übersiedelte auch von den Habsburgern Rudolph II. dann noch einmal nach Prag, nahm seine Regentenpflichten aber gegen Ende nur mehr sehr sporadisch wahr. Am gravierendsten wirkte sich aus, daß weder er noch einer seiner Brüder für legitime Nachfahren gesorgt hatte. Die Casa d’Austria fiel deshalb einer Übernahme durch die wilden Bergvölker jenseits des Semmerings anheim.

Prag – so hieß es 1948 mit warnendem Unterton – liege schließlich westlich von Wien. Das bedeutete, daß es im Reich eine zentralere Position einnahm. Ferdinand III. hat während des Dreißigjährigen Krieges vielleicht nur seine spanische erste Frau davon abgehalten, die Residenz noch einmal nach Prag zu verlegen. Noch unter seinem Sohn Leopold I. wunderte sich der spanische Botschafter, warum die Habsburger ihre Zelte nicht lieber an der Moldau aufschlügen als an der Donau. Erst mit Maria Theresia verfestigte sich endlich die Dominanz der Wiener Zentralbürokratie. Spätestens jetzt galt: Es gibt nur eine Kaiserstadt, es gibt nur ein Wien. Denn die entsprechenden Pariser und Berliner Entwürfe erwiesen sich als nicht besonders langlebig, von den Kaisern von Indien und Äthiopien einmal ganz abgesehen…

Prag als heimliche Hauptstadt der Deutschen Österreichs

Doch Prag entwickelte sich im neunzehnten Jahrhundert trotzdem noch einmal zu so etwas wie der heimlichen Hauptstadt Österreichs oder zumindest der Deutschen Österreichs. Das lag nicht an der Zahl der Prager Deutschen – in Brünn, ja zuletzt auch in Aussig oder Reichenberg lebten sehr viel mehr Deutsche. Es lag – wie so viele Kuriosa der österreichischen Politik bis heute – an den föderalistischen Elementen, die selbst in einer zentralistischen Verfassung überlebt hatten. Als die Habsburgermonarchie nach dem ersten Anlauf 1848/49 ein Dutzend Jahre später wieder ein Parlament bekam, wurden die Abgeordneten nämlich weiterhin von den Landtagen gewählt. Der böhmische Landtag aber entsandte mehr Abgeordnete als jeder andere, über ein Viertel des Parlaments – 54 von 203 „cisleithanischen“ Mandataren.

500 Großgrundbesitzer als das Zünglein an der Waage

Freilich, wenn die Tschechen und ihre „feudalen“ Verbündeten im Hochadel die Mehrheit im böhmischen Landtag hatten, entsandte dieser überhaupt keine Abgeordneten, denn die „böhmisch-staatsrechtliche“ Partei lehnte die Dezemberverfassung von 1867 ab. Ob die Deutschen oder die Tschechen im böhmischen Landtag die Mehrheit errangen, hing einzig und allein von den nicht ganz 500 Großgrundbesitzern ab, die im Landtag mit ihrer „Kurie“ das Zünglein an der Waage bildeten. Unter diesen Großgrundbesitzern waren die großen böhmischen Adelsgeschlechter prominent vertreten: Da standen alte böhmische Familien wie die Waldsteins oder Kinskys jetzt auf der deutschen Seite, deutsche Familien wie die Schwarzenbergs oder Schönborns auf der tschechischen.
Wer auch immer die Wahlen gewann, als Schwungrad der
österreichischen Politik konnte die „Adels-Ressource“ in der Prager Zeltnergasse gelten, die vom Pulverturm zum Altstädter Ring führt. „Wirkliche Mitglieder“ konnten dort nur Adelige werden, „abonnierte“ auch Angehörige „anderer gebildeter Stände“. Als Wahlkampfhauptquartier der deutsch-zentrali-stischen „Verfassungstreuen“ fungierte meist das Hotel „Zum Blauen Stern“ gegenüber dem Pulverturm, dort, wo heute der Riesenbau der tschechischen Nationalbank thront. Für die Deutschen in Österreich hatte dieses Prager Machtzentrum jedenfalls weitreichende Konsequenzen.

Wenn die Deutschen die Wahlen in Böhmen verloren, gab es keine deutsche Mehrheit im Wiener Reichsrat.

Wenn die Deutschen die Wahlen in Böhmen hingegen gewannen, dann waren automatisch mehr als die Hälfte der deutschen Abgeordneten „Sudetendeutsche“. Von der Elite der Deutschböhmen kamen selbstverständlich nicht alle aus Prag, aber dort war der „Schwerpunkt ihrer Lebensinteressen“. Das galt trotz seiner Wurzeln in der Krain als Herzog von Gottschee für den Ministerpräsidenten „Carlos“ Auers-perg, der als Fürst – und ehemaliger Präsident der „Adels-Ressource“ – 1868 dem sogenannten „Bürgerministerium“ vorstand; das galt ebenso für Leopold Hasner von Artha, der 1870 dieses Bürgerministerium zu Grabe tragen mußte.

Das galt vor allem aber für den gebürtigen Wiener Eduard Herbst, der als Universitätsprofessor nach Prag übersiedelt war, für für seinen politischen Stabschef, Franz Schmeykal, der aus Böhmisch-Leipa stammte, und für sein publizistisches Sprachrohr, den „Tagesboten aus Böhmen“ unter David Kuh, einem früheren Anhänger Kossuths, der nach 1848 aus Budapest nach Prag übersiedelt war. Kuh bezeichnete Herbst 1867 als „Führer der Deutschen in Böhmen in einem so eminenten Sinne, wie ihn außerhalb Ungarns kein Volk und keine Partei aufzuweisen hat“. Herbst war berüchtigt für seine scharfsinnige Dialektik und sein strenges Regiment. Diplomatisches Auftreten gehörte nicht zu seinen Stärken: Karikaturen zeigten ihn vorzugsweise mit grimmiger Miene und zerzausten Haaren. Auersperg knirschte: Die böhmischen Wahlen „hängen keineswegs von den 500 Großgrundbesitzern ab, die denn doch eine ungeheure Steuersumme repräsentieren, sondern von einer einzigen Persönlichkeit“ – nämlich Herbst.

Das Deutsche Casino unter Eduard Herbst – verhaßt und gefürchtet

Als Führer der Zentralisten betonte Herbst natürlich: „Wir gravitieren doch alle nach Wien…“. Aber das Zentrum seiner Macht lag in Prag. Dieses Zentrum läßt sich heute noch besuchen. Es befand sich im ehemaligen Palais Vernier am Graben, ebenfalls nur hundert Meter vom Pulverturm entfernt. Damals hatte in dem Gebäude das 1862 gegründete Deutsche Casino seinen Sitz aufgeschlagen. Heute ist dort tatsächlich eine Spielbank einquartiert; damals hatte man zu dem Begriff andere Assoziationen: Die katholischen Vereine der Monarchie nannten sich mit Vorliebe Casinos. In Prag lagen die Dinge anders: Gerade weil die Deutschen Prags gerade einmal die Bevölkerung einer Kleinstadt ausmachten, waren alle, die etwas zu sagen hatten, dort Mitglied – von den Politikern bis zu den Bankiers; und aus Prag kamen unter anderem auch die Gründer der Wiener Bodencreditanstalt als Konkurrenz zur Creditanstalt. Das Deutsche Casino galt als der mächtigste Verein der Monarchie. Es war verhaßt und gefürchtet. Als Herbsts Deutsch-Liberale nach ihrem letzten großen Wahlsieg 1873 mit ihren Ansprüchen ein wenig über die Stränge schlugen, kommentierte eine Zeitung „Die Herren gebärden sich, als ob sie im Prager Casino säßen.“

Völker in „wohltemperierter Unzufriedenheit“

1878 überreizte Herbst sein Blatt dann, als er gegen die Okkupation Bosniens sein Veto einlegte. Kaiser Franz Joseph verstand keinen Spaß, wenn ihm jemand seine Rolle als „Mehrer des Reiches“ streitig machen wollte. Er soll gesagt haben: „Die Rache wird süß sein“. Tatsächlich ging die „liberale Ära“ 1879 zu Ende. An ihre Stelle trat der „Eiserne Ring“ des Grafen Eduard Taaffe, der den Liberalen zwar das Kompliment machte, die Hälfte seien Aktionäre, die Hälfte Reaktionäre, der aber lieber ohne sie regieren wollte. Die Deutschen beherrschten zwar weiterhin den Apparat, die Bürokratie – aber nicht mehr das Kabinett. Die Kunst des Regierens im alten Österreich definierte Taaffe einmal treffend, es ginge darum, alle Völker in „wohltemperierter Unzufriedenheit“ zu erhalten.

Über den Autor:
Lothar Höbelt, geb. 1956 in Wien, Studium bei Heinrich Lutz und Adam Wandruszka, Promotion sub auspiciis Praesidentis 1982, Universitätsassistent und seit 1997 ao. Univ.-Prof. für neuere Geschichte an der Universität Wien; im Ruhestand seit 2021. Über ein Dutzend Bücher zur (alt)österreichischen Geschichte, zuletzt: „Größter Fehler ist nervös zu werden“: Seipel, der „Bürgerblock“ und die „Genfer Sanierung“ 1922 (Böhlau 2023).

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