Ein Reisetagebuch
von Erik Lehnert
Meine Vorfahren väterlicherseits stammen aus Ostpreußen. Die Erinnerung an die Heimat blieb in der Familie lebendig, sodaß Ostpreußen für mich immer ein Sehnsuchtsort gewesen ist. Bereits in den 1990er-Jahren unternahm ich einige Reisen dorthin. Der Anstoß zur hier dokumentierten Reise kam von einem Freund, den auch ohne entsprechenden familiären Hintergrund ähnliche Gefühle mit Ostpreußen verbinden. Ostpreußen ist nicht ohne Grund unvergessen und zu einem deutschen Mythos geworden. Unsere Eindrücke und Erlebnisse ließen wir jeden Abend bis tief in die Nacht hinein Revue passieren. Die Niederschrift des Tagebuches mußte also jeweils bis zum darauffolgenden Morgen warten. EL
20. Mai 2022 – Die Fahrt geht von Berlin nach Allenstein, Umstieg in Posen. Der dortige Bahnhof macht den Eindruck einer Flughafenwartehalle im Rohbau, alles unglaublich verdreckt und dunkel. Der Zug nach Allenstein ist zwar pünktlich, aber dann ist alles wie in Deutschland: Meine Platzreservierung ist im System verschwunden, der Zug überfüllt. In Thorn geht es nicht weiter, Schaden am Triebwagen, Informationen nur auf Polnisch. Die jungen Polen sprechen glücklicherweise Englisch, also geht es im Pulk erst nach Deutsch-Eylau und von dort weiter nach Allenstein. Mein Reisegefährte aus Wien ist pünktlich eingetroffen, sodaß es nach Bezug der Hotelzimmer gleich an die Feinplanung der nächsten Tage gehen kann. Wir wollen mit dem Auto von Allenstein aus den südlichen, heute polnischen Teil Ostpreußens erkunden, der heute als Woiwodschaft Ermland-Masuren bezeichnet wird.
21. Mai – Da die Wetterprognose für den Osten Dauerregen ankündigt, geht es erstmal Richtung Westpreußen, zur Marienburg. Auf dem Weg dorthin kommen wir durch Altfelde, auf dessen Friedhof uns eine restaurierte Gruft von 1912 anrührt, in welcher die Nachfahren der örtlichen Gutsbesitzer ihre von dort vertriebene Großmutter, die in der Fremde starb, bestattet haben. In der Marienburg sind wir fast allein, bei dem Wetter bleiben die Touristenmassen, die sich hier sonst tummeln, weg. Die Marienburg war nach dem Zweiten Weltkrieg eine Ruine. Alles was man heute zu sehen bekommt, haben die Polen restauriert, weil die Burg des Deutschen Ordens für ein Jahrhundert Sitz der polnischen Könige war. Dennoch findet sich auch so manches Detail aus deutscher Zeit wiederhergestellt. Da wir schon einmal in Burgenstimmung sind, fahren wir über Mewe, Marienwerder und Schönburg zurück nach Allenstein. Die Burg in Marienwerder ist durch den außergewöhnlich langen Dansker – letztlich ein Toilettenturm, der durch eine lange Wehrbrücke mit der Burg verbunden ist – eine Besonderheit. Von Schönburg stehen nur noch Ruinen, bei deren Anblick man an lange zurückliegenden Verfall denkt. Allerdings war die Burg bis 1945 bewohnt, erst die Russen haben sie abgebrannt.
22. Mai – Trotz des schon am Morgen einsetzenden Nieselregens fahren wir los, diesmal Richtung Osten, zur unvermeidlichen Wolfsschanze bei Rastenburg. Mitten im Wald gelegen, ist sie dennoch kein Geheimtip. Die Ausschilderung beginnt in Rastenburg, die Parkplätze und die touristische Infrastruktur lassen erahnen, was hier bei gutem Wetter los ist. Das ganze Gelände entpuppt sich als eine Art Disneyland vor realer Kulisse. Der Regen versetzt uns in die angemessene Stimmung… Am Eingang ein paar Militärfahrzeuge unklarer Herkunft, ein gepflasterter Weg vorbei an den bizarren Formen gesprengter Bunker, teilweise zum Schutz vor Angriffen aus der Luft mit Tarnnetzen überspannt, schließlich die nachgebaute, mit allen möglichen Bodenfunden vollgestopfte Baracke, Hitler und Stauffenberg als Pappfiguren. Der Museumsladen hält jeden mit „Wolfschanze“ verzierten Nippes bereit. Unweit der Wolfschanze hatte das OKH seinen weitverzweigten Sitz unter der Erde.
Aber schon der erste Bunker war so geschmacklos ausgestattet – ein Raum stellte Hitlers letzte Tage in der Reichskanzlei nach –, daß wir die Besichtigung abbrachen. Und leere Bunker sind alle gleich: Kennste einen, kennste alle. Die Überreste einer Schleuse des 1939 nicht mehr fertiggestellten Masurischen Kanals hatten dagegen etwas Surreales: ein Betonklotz in der Natur, fernab der Straßen, in der Mitte die Umrisse des Reichsadlers. Rückfahrt über das Lehndorffsche Steinort, Döhnhoffstätt und Jäglack, das Surminski in seinem Jokehnen verewigt hat und das als einziges der Schlösser einen freundlichen Eindruck machte.
23. Mai – Endlich ist der Himmel auf unserer Seite! Die Sonne strahlt, wir beginnen den Tag mit einem Ausflug zum Freilichtmuseum vor den Toren der Stadt Hohenstein. Auf einem weitläufigen Gelände sind originale Bauernhäuser aus Ostpreußen, u.a. die berühmten Vorlaubenhäuser, zu besichtigen, die hier zusammengeführt wurden. Der Ursprung der Sammlung liegt noch vor dem Ersten Weltkrieg, wird aber von den Polen liebevoll gepflegt. Bei unserem Besuch war man gerade damit beschäftigt, eine Bockwindmühle zu bauen, mit den Techniken und Werkzeugen des 18. Jahrhunderts. Bevor die Schulklassen in das Museum einfallen, begeben wir uns auf die Suche nach Spuren der Tannenbergschlacht, die südwestlich Hohensteins stattgefunden hat und nur so heißt, wie sie heißt, weil Hindenburg damit die Scharte von 1410, als hier die Deutschordensritter geschlagen wurden, zumindest geschichtspolitisch auswetzen wollte. Daher errichtete man hier nach dem Ersten Weltkrieg das Tannenbergdenkmal, das 1945 gesprengt wurde und von dem nur noch eine Senke mit einigen Trümmern zeugt. Nur ein granitener Löwe hat die Sprengung überstanden. Er steht heute vor dem Hohensteiner Rathaus, auf der anderen Seite des Marktplatzes erinnert mittlerweile eine Gedenktafel an den Immunologen Emil von Behring, der hier das Gymnasium besucht hat. Die Tannenbergschlacht ist in den Dörfern und an den Straßen der Umgebung durch verschiedene Gräber und Grabsteine präsent. Ob der Hügel, den wir als Feldherrenhügel identifizierten, wirklich der Standort Hindenburgs während der Schlacht war, mußte mangels eindeutiger Hinweise offen bleiben.
24. Mai – Heute geht es Richtung Preußisch Holland, um u.a. die Dörfer aufzusuchen, aus denen meine Großeltern stammen. In dem Geburtsort meines Vaters war ich Anfang der 1990er Jahre schon einmal, seither haben sich die Spuren noch mehr verwischt. Das Gutshaus ist mittlerweile unrettbar verfallen, die Häuser polnisch instandgesetzt, die Reste des deutschen Friedhofs, schon damals völlig überwuchert, finde ich jetzt gar nicht mehr. Die Dörfer meiner Großeltern sehe ich zum ersten Mal. Es sind kleine Weiler mit wenigen Häusern, mitten in einer dünn besiedelten, sehr norddeutschen Landschaft, den Nordwestausläufern des Oberlandes, das einmal die „blonde Schwester Masurens“ genannt wurde. Die Orte gehörten zum Kirchspiel Grünhagen, wo die Großeltern geheiratet haben. Die Kirche, jetzt natürlich katholisch, steht noch, ergänzt durch einen Kreuzweg, der an Geschmacklosigkeit schwer zu überbieten sein dürfte. Dank der zeitraubenden Fahrt über die Dörfer entdecken wir manch schöne Kleinigkeit, u.a. ein Vorlaubenhaus. Was es immer wieder gibt, sind erstaunlich gut erhaltene, manchmal sogar instandgesetzte Ehrenmäler für die Gefallenen von 1914-18. In Groß-Arnsdorf halten wir, um ein wunderliches Holzdenkmal, das Kant darstellen soll, zu betrachten. Es zeigt sich, daß der große Ostpreuße hier als Hauslehrer gearbeitet hat. Wenig später sind wir in Kanthen, wo sich eine der geneigten Ebenen des Oberlandkanals befindet. Hier werden die Höhenunterschiede nicht durch Schleusen überwunden, sondern die Schiffe werden auf Wagen den Berg hochgezogen. Die freundliche Einladung eines Kapitäns zur Mitfahrt mußten wir aus Zeitgründen ablehnen.
(Fortsetzung im ECKART 3/2023)