Blaue drehen auf, Rote durch

von Benedikt Kaiser

Durch den Osten der BRD rollt – wie erwartet – eine blaue Welle. Die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen am 1. September wurden nun durch die Brandenburg-Wahl am 22. September komplettiert. Neue Koalitionen sind noch nicht gebildet; es sind aber in allen drei Ländern Allparteienallianzen gegen die AfD zu erwarten: von CDU und SPD bis zum Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) und zu der Linkspartei. Die technische Frage wird darin bestehen, ob es wirkliche Koalitionen oder Duldungs- bzw. Tolerierungsmodelle seien. Daß aber kooperiert wird, „um die AfD zu verhindern“, ist Konsens von Blutrot bis Schwarz.

Zunächst aus patriotischer Sicht zur Doppelwahl vom 1. September: Die Ergebnisse für die AfD sind unterschiedlich zu bewerten. In Thüringen schnitt man besser ab als in Sachsen (32,8 bzw. 30,6 %), in beiden Ländern wählte man einen unterschiedlichen Zugang zum Wahlkampf. Vereinfacht gesagt könnte man es so darstellen: In Thüringen wählte man den Weg „ins Volk“. Es war dies ein dynamischer, jugendlicher, moderner und offensiver Weg, der durch Feste und Kundgebungen im öffentlichen Raum und durch eine bis dato beispiellose mediale Kampagne begleitet wurde. Attackiert wurde sowohl die Bodo-Ramelow-Regierung (Rot-Rot-Grün) als auch die Konkurrenz der opportunistischen Christdemokratie. In Sachsen wählte man hingegen mancherorts eher den Weg des „Dienstes nach Vorschrift“. Denn: Man tat das, was man tun mußte, aber ging keine „Extrameile“ – es würde  ja auch so reichen.

Die Grünen wurden aus guten Gründen als Hauptgegner markiert, doch die seit 1990 im Freistaat regierende CDU wurde aus weniger guten Gründen geschont; man wollte etwaige Koalitionspartner wohl nicht vergrämen. Das hinter allen – auch eigenen – Erwartungen bleibende Ergebnis, das lediglich einen Zuwachs von 3,1 Prozentpunkten bedeutete (Thüringen: +9,4, Brandenburg: +5,6) lag demzufolge nicht am Fleiß der Basis der Partei und der Parteijugend der Jungen Alternative und auch nicht am Engagement der Wahlkämpfer von nah und fern. Das enttäuschende Ergebnis lag vielmehr an einer fehlenden Generallinie, an einer inexistenten übergeordneten und bis ins letzte Dorf vermittelten Wahlkampfstrategie für die analoge und die digitale Welt gleichermaßen. Das, was seitens der Wahlkampfleitung überhaupt auf die Straße und in die Medien gebracht wurde, ließ Hoffnungs- und Offensivgeist zu sehr vermissen.

Wir dürfen nicht vergessen: In Sachsen kommt das demoskopische Institut INSA aktuell auf ein AfD-Wahlpotential von rund 40 Prozent – die Sachsen-AfD blieb fast zehn Prozentpunkte darunter. Die Spitze der sächsischen AfD schiebt jedwede Verantwortung weit von sich; sie sieht den Grund in der Kleinpartei „Freie Sachsen“ (FS). Sie hätten mit ihren 2,2 Prozent das AfD-Ergebnis geschmälert. Das Problem ist: Diese sich selbst entlastende und andere belastende Rechnung geht nicht auf. Die Kernwählerschaft der FS – siehe Landratswahl 2022, Kommunalwahlen 2024 und nun Landtagswahl 2024 – umfaßt ein verfestigtes, recht eigenständiges, dynamisches, nicht mehr wachsendes Milieu, das zwischen zwei und drei Prozent der Wähler in Sachsen abbildet. Das Milieu speist sich aus der Coronaprotestbewegung, Rechts-Regionalisten, Resten der früheren NPD (jetzt: HEIMAT) und verschiedenen Kadern nationaler Gruppen. Jeder, der sich einmal mit den FS-Gruppen beschäftigt hat, wird feststellen, daß dort eine über die Jahre verfestigte grundlegend kritische Sicht zur Sachsen-AfD vorherrschend ist. Ein Großteil der über 50.000 FS-Wähler wäre eher ins Nichtwählerlager (zurück-)gewechselt als zur AfD. Die, die jetzt FS gewählt haben, sind deren Kern und beileibe nicht AfD-zugänglich – alle anderen Rechtswähler wurden nicht erst jetzt vom AfD-Schwamm aufgesaugt, sondern sind es seit Jahren. Und die bleiben auch erst einmal dort. Die AfD-Marke ist etabliert und ein beispielloses Erfolgsprodukt. Notabene: Die Sachsen-AfD wäre selbst mit den ganzen 2,2 Prozent der FS immer noch weit unter der anvisierten 40-Prozent-Marke geblieben.

Die Frage ist: Was muß die AfD in Sachsen tun, um noch besser von der allgemeinen Wendestimmung im oppositionellen Lager und der offenkundigen Bereitschaft vieler Sachsen, um jeden Preis blau zu wählen, zu profitieren?

Die Lehre für Kommendes ergibt sich aus dem Zusammenhang der Sache, dem mangelhaften Wahlkampf und seinen Resultaten selbst: Die Fraktionsspitze in Dresden muß ihre Lage und die von ihr bestellten Wahlkampfstrategen selbstkritisch auswerten, aus der eigenen Wohlfühlblase herauskommen und von den Leitzentralen der AfD-Fraktionen in Erfurt, Magdeburg und Potsdam lernen. Dort verfügt man bereits über jenen strategischen Sach- und Fachverstand, der in Dresden vermißt wird. Wenn diese Schwäche Stück für Stück konstruktiv behoben würde, könnte Sachsen seine ureigene Rolle als patriotischer Motor der Bundesrepublik einnehmen. Denn wie ich bereits im September 2022 im ECKART über Sachsen als „Deutschlands patriotische Sammelstelle“ schrieb: Kein Bundesland ist von der Substanz und der gesellschaftlichen Verfaßtheit besser geeignet, die Verhältnisse in der BRD im positiven Sinne zum Tanzen zu bringen. Nur: Wer ernstlich Tanzen will, muß von seinem Bürostuhl zunächst einmal aufstehen. Mit bürgerlich-zögerlicher Behäbigkeit und bleierner CDU-Atmosphäre der 1990er-Jahre erhält man gewiß die zahlreichen Stimmen jener, die der AfD derzeit jede Menge Vorschußvertrauen entgegenbringen – und zwar unabhängig davon, was sie tut und wer es tut; aber um Sachsen und das ganze Land nachhaltig zu verändern, wird man deutlich über die aktuelle 30-Prozent-Marke hinausklettern müssen. Das ist möglich. Nur eben nicht so, wie es jetzt versucht wurde.

Sich einiges abschauen könnte sich die Sachsenspitze der AfD dabei von ihren Kollegen in Brandenburg rund um Spitzenkandidat Christoph Berndt. Für das linksliberale Establishment wäre es der Weg in den realpolitischen Untergang, würden die dortige AfD-Landesführung oder die Thüringer Kollegen in Sachsen wirken. Weltanschaulich rückgebunden, strategisch klug, politisch am Puls der Zeit und voller Einsatz im vielgestaltigen Wahlkampf: Im „roten Brandenburg“, das seit 1990 von der SPD dominiert wurde und wird, erzielte man damit am 22. September nicht nur 29,2 Prozent; man erreichte zudem wie in Thüringen die Sperrminorität. Das heißt: Man verfügt über mehr als ein Drittel der Parlamentssitze, was wiederum bedeutet, daß beispielsweise substantielle Änderungen der Landesverfassungen nicht länger an der AfD vorbei möglich sind. Die Polarisierung zwischen SPD und AfD sorgte übrigens dafür, daß die Linkspartei und die Grünen aus dem Brandenburger Landesparlament gewählt wurden – die Linken verpaßten damit erstmals überhaupt seit der Wiedervereinigung den Einzug in ein ostdeutsches Landesparlament. Auch in der Mark wählten viele Ex-Die Linke-Wähler nun lieber das „linkskonservative“ BSW; dieses allerdings zeigt schon direkt nach der Wahl, daß es keine Alternative zur Alternative ist, sondern eine Erweiterung des Parteienkartells, sprich: das es eine jüngere Altpartei, darstellt. Denn das BSW äußert sich wie alle „gegen rechts“ und für Dreierkoalitionen, um die AfD auszugrenzen.

Das hindert die Edelfedern der BRD-Schickeria selbstredend nicht daran, ein vermeintliches Tandem aus AfD und BSW gemeinsam zur „Querfront“-Bedrohung für die liberale Mitte des Landes zu stilisieren. Nikolaus Blome, Leiter des Politikressorts bei RTL und n-tv, schreibt etwa für das Nachrichtenmagazin Spiegel folgende Zeilen: „In Ostdeutschland haben 40 Prozent Parteien gewählt, die Menschenverachtung, Täter-Opfer-Umkehr und Diktatorenverehrung betreiben.“ Ähnlich und intellektuell kaum erhabener argumentiert Detlef Pollack im Philosophie Magazin. Der Soziologe zeigt sich sichtlich schockiert ob des Wahlverhaltens der Ostbürger: „Im Grunde verlassen sich die empörten Jammerossis darauf, daß man ihnen alles verzeiht, daß ihr Wahlverhalten keine Folgen hat, daß die demokratischen Parteien es schon richten werden.“ Auf die Idee, daß es die „demokratischen“ (also: mainstreamigen) Parteien eben seit vielen Jahren gerade nicht richten, sondern die Verhältnisse mit jeder weiteren selbstgeschaffenen Krise verschärfen, kommt Pollack nicht.

Indes, immerhin einen Punkt trifft er: „Die Ostdeutschen haben eine Stimme und sind ein mächtiger Akteur. Sie können die bundesdeutsche Politik aufmischen, und sie wissen das. Und deswegen werden sie so auch weitermachen.“ Das ist zu hoffen.

Benedikt Kaiser

Über den Autor:
Benedikt Kaiser, Jg. 1987, studierte an der Technischen Universität Chemnitz im Hauptfach Politikwissenschaft. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lektor und Publizist. Kaiser schreibt u.a. für Sezession (BRD), Kommentár (Ungarn) und Tekos (Belgien); für éléments und Nouvelle École (Frankreich) ist er deutscher Korrespondent.

Beitrag teilen

Facebook
Twitter
Email
Telegram
Print