von Benedikt Kaiser
Ein „Superwahljahr“ findet 2024 nicht nur in Österreich statt, sondern auch in der Bundesrepublik Deutschland. Vor allem im Osten der BRD wird mehrfach gewählt. So wird in Sachsen, Thüringen und Brandenburg einmal alles durchgespielt: vom Ortschafts- und Gemeinderat über Stadtparlamente, Kreistage und Landtage bis zur Europawahl am 9. Juni. An diesem Tag wird in den meisten der genannten Bundesländer zeitgleich gewählt. Nur Thüringen scherte aus: Dort rief man die Bürger bereits am 26. Mai an die Wahlurnen, was von der bundesdeutschen Medienlandschaft mit Argusaugen beobachtet wurde. Gibt es eine „blaue Welle“, die durch den Freistaat im Herzen des Landes rollt – oder ein „Comeback“ der weiterhin amtierenden Landesregierung aus Linkspartei, SPD und Grünen? Wie wird die CDU abschneiden? Was machen neue Parteien wie die WerteUnion (WU), die Bürger für Thüringen (BfTh), das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und die HEIMAT (Ex-NPD)? Keine Frage: Thüringen ist das Laboratorium für die neue Unübersichtlichkeit ostdeutscher Parlamentspolitik der kommenden Jahre!
In der Woche nach der Wahl kann man feststellen: Es gab keinen vollständigen Durchbruch und zwar für niemanden, aber einen Zusammenbruch der rot-rot-grünen Allianz. „R2G“ kommt zusammengerechnet nur noch auf rund 23 % der abgegebenen Stimmen (Wahlbeteiligung: ca. 62 %). Weniger als ein Viertel der Thüringer bestätigen also den Kurs der Landesregierung – das ist wenig. Und die „Ampel“-Parteien, also die Parteien der Bundesregierung, kommen zusammengenommen lediglich auf unter 18 % – das ist ein Debakel.
Wer profitiert? Natürlich die AfD. Sie hat rund 26,5 % (plus 8,8) im landesweiten Schnitt erkämpft; damit sind die Blauen unter den Landeschefs Björn Höcke und Stefan Möller allein stärker als die Erfurter bzw. Berliner Nochregierungsparteien im jeweiligen Dreierblock. Die CDU bleibt fast unverändert bei 27,5 % (plus 0,2), was sie auch ihren Hochburgen wie dem katholischen Eichsfeld zu verdanken hat, wo die Schwarzen trotz ihrer Verluste auf fast 45 % kamen. Auffällig ist aber auch: Viele Bürger haben sich für lokale und regionale „freie“ Wahlalternativen entschieden. Das wird bei der Landtagswahl am 1. September in dieser Form nicht möglich sein. Wer wird diese Menschen erreichen? Es ist eine, wenn nicht die Schlüsselfrage.
Was die Kleinen und Neuen anbelangt, haben sich die liberalkonservativen Träume prompt wieder ausgeträumt. Zwar kündigte die WerteUnion, eine Abspaltung der CDU, an, mit dem Exgeheimdienstchef Hans-Georg Maaßen einen eigenen Ministerpräsidentenkandidaten für den 1. September zu stellen. Aber hat das Sinn, wenn selbst in der „Hochburg“, dem südthüringischen Saale-Orla-Kreis an der alten Zonengrenze zu Bayern, nur 2 % herausspringen und man keinerlei kommunale Verankerung aufweist? Ähnliches gilt für die „Bürger für Thüringen“, ein Amalgam aus enttäuschten FDP- und AfD-Sympathisanten, die nirgendwo Erfolge erzielen konnten und am 1. September mit der WU gemeinsam antreten.
Bleiben noch BSW und HEIMAT. Beide traten nur in bestimmten Regionen an. Die „linkskonservative“ bis „linkspopulistische“ Wagenknecht-Partei konnte eine Bürgermeisterwahl (Bleicherode) für sich entscheiden und dort, wo sie antrat (in nur vier von 17 Landkreisen), die jeweiligen Kreistage (Wartburgkreis, Gotha, Sonneberg, Greiz) mit im Schnitt beachtlichen 10 % entern. Das ist nicht der erhoffte Auftakt zu einer BSW-Euphorie, dürfte aber im September reichen, um im Landesparlament in Erfurt das Zünglein an der Waage zu sein – „mit CDU und Linken gegen die AfD“ könnte die Devise dann heißen.
Die HEIMAT, die einst NPD hieß, kann derlei Erfolge erwartungsgemäß nicht verbuchen. Sie verlor die jeweiligen Kreistagsmandate im Eichsfeld, in Nordhausen und in Sömmerda, behielt lediglich jenes im Kyffhäuserkreis und gewann ein Neues im Wartburgkreis. Auffällig sind leichte Zuwächse in der 25.000-Einwohner-Stadt Sondershausen und das beachtliche Ergebnis in ihrer Hochburg Eisenach, wo man 6,3 % erkämpfen konnte, obwohl gleichzeitig die AfD reüssierte: 22 % (plus 7). Allerdings hatten die Nationaldemokraten in der Wartburg- und Burschenschaftsdenkmalstadt 2019 noch 10 % erzielen können. Ein Achtungserfolg, der es bis in bundesweite (!) Nachrichten schaffte, war ausgerechnet dem rechts von der HEIMAT stehenden Tommy Frenck mit seinem Bündnis Zukunft Hildburghausen (BZH) vergönnt. Der Gastronom, der sich unverhohlen als Neo-Nationalsozialist vermarktet, erreichte mit rund 25 % die Stichwahl um den Posten des Landrates in seinem Kreis am 9. Juni, zog in Fraktionsstärke in den Kreistag ein (11,6 %) und gewann in seinem Heimatort Kloster Veßra die meisten Stimmen aller Kandidaten: Diese 40 % sorgten über Thüringen hinaus für Entsetzen, obwohl dieses Ergebnis freilich ein regionaler Sonderfall bleiben wird.
Kein regionaler Sonderfall ist hingegen die neue Polarisierung Ostdeutschlands, die daher als Fazit zu notieren ist: Die linksliberalen Bündnisse „Ampel“ und „R2G“ finden in Thüringen keine Mehrheit (mehr). Alles wird zwischen CDU und AfD entschieden. Ähnliches ist auch für Sachsen und in abgeschwächter Form für Brandenburg zu erwarten. Da die CDU jedoch ausreichend politisch-pragmatische Flexibilität – negativer formuliert: Opportunismus – in ihrer DNA besitzt, wird sie wohl eine Allparteienallianz schmieden können, um in Dresden, Potsdam und Erfurt die AfD niederzuhalten.
Der Nachteil für die AfD im Osten ist daher, daß sie allein kämpfen muß. Ihr Vorteil ist, daß sie allein kämpfen muß! Denn wenn die Blauen durch starke eigene Ergebnisse die Schwarzen in Einheitsfronten mit Linken, Öko-Linken und Mitte-Linken zwingt, wird auch dem letzten Wähler klar: Es gibt nur noch eine authentische Alternative zum falschen Ganzen. Außerdem führt das zu neuen Zerreißproben in der CDU selbst: Viele Mitglieder der Christdemokraten speziell in den ländlichen Verbänden wollen kein Zusammengehen mit Postkommunisten und Klimasektierern und sehen die „Brandmauer“ gegen rechts, die kommunal längst bröckelt – so sie denn überhaupt integral existiert – als destruktiv an: Wählen die CDU-Oberen daher tatsächlich diesen Weg, dürften heftige innere Widersprüche aufbrechen.
Es bleibt daher wie immer im Osten der Bundesrepublik: spannend und polarisierend.
Benedikt Kaiser
Über den Autor:
Benedikt Kaiser, Jg. 1987, studierte an der Technischen Universität Chemnitz im Hauptfach Politikwissenschaft. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lektor und Publizist. Kaiser schreibt u.a. für Sezession (BRD), Kommentár (Ungarn) und Tekos (Belgien); für éléments und Nouvelle École (Frankreich) ist er deutscher Korrespondent.