von Georg Alexander
„Kreuzberger Nächte sind lang“, hieß es früher in Berlin. Das stimmt auch heute noch, muß aber um die zahlreichen neuen Szenebezirke in Ost und West wie Prenzlauer Berg, Friedrichshain oder Neukölln ergänzt werden. Dazu kommt, daß anders als in fast allen Städten weltweit in Berlin immer noch das Institut der Raucherkneipe existiert und von Einheimischen wie Touristen zelebriert wird. Die Lokale tragen verruchte Namen wie Der Genosse oder Zu mir oder zu dir?. Die Luft ist zum Schneiden, doch besucht man diese Orte ohnehin nicht aus Gesundheitsgründen.
Drinnen sieht es aus wie in einem Altmöbellager. Ein Inhaber berichtet von seiner um teures Geld neu und hochwertig eingerichteten „Lounge“. Leider kamen keine Gäste. Also hat er sämtliche Möbel entfernt und durch Flohmarktfunde und Sperrmüll ersetzt. Seitdem brummt der Laden.
Mittelpunkt jeder Raucherkneipe ist natürlich der Wirt. Manchmal steht ein Berliner Original mit Schiebermütze hinter dem Tresen und gibt ungefragt Kalauer zum besten wie: „Willst du mal ‘nen schönen Barkeeper sehen? – Mußt du in eine andere Kneipe gehen.“ Nicht immer muß es aber ein „biodeutscher“ Wirt sein, und so trifft man auch auf einen langbärtigen Glatzkopf mit Migrationshintergrund, der stolz die Signatur von Kemal Atatürk am Unterarm trägt. Die Frage, warum ausgerechnet die Kneipe Der Genosse mit zahlreichen Atatürk-Devotionalien aufwarte, wird mit der entwaffnenden Antwort gekontert, daß er der größte Sozialrevolutionär aller Zeiten gewesen sei.
Sperrstunden gibt es nicht oder gelten als unsportlich. So sind manche Kneipen rund um die Uhr geöffnet und hatten bis zur erzwungenen Corona-Sperre nicht einmal ein Türschloß. Warum auch, wenn man ständig offen hat?
Raucherkneipen sind letzte Zufluchtsorte vor Konformismus und Gleichmacherei. In Brüssel schmiedet man schon Pläne, die Volksgesundheit durch Schließung dieser Lokale zu fördern. Möge der Raucherkneipe dennoch ein langes Leben beschieden sein! Nichtraucher sind übrigens ebenfalls willkommen.