von Mario Kandil
Kalendarium Kandili (54)
Daß mitten im Kalten Krieg die Sowjetunion den Kriegszustand mit Deutschland für beendet erklärte, jährt sich heuer zum 70. Mal. Dieses Ereignis wird in den meisten Darstellungen der deutsch-sowjetischen Beziehungen gar nicht erwähnt – doch ist es ebenso bedeutend wie die weit berühmteren Stalin-Noten von 1952.
Die Beendigung des Kriegszustandes der Sowjetunion mit Deutschland wurde vom Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR mittels eines Erlasses vom 25. Januar 1955 ausgesprochen und zwar in §1. Dabei wurde nicht erwähnt, daß an die Stelle des einen Deutschlands, gegen das die UdSSR im „Großen Vaterländischen Krieg“ gekämpft hatte, mittlerweile zwei deutsche Staaten, die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik, getreten waren. Die Verfasser des Erlasses bedauerten offenbar, daß sie die Westbindung der BRD nicht hatten verhindern können, denn im Text heißt es: „Das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR hält es für anormal, daß, obwohl seit der Einstellung der Feindseligkeiten mit Deutschland fast zehn Jahre vergangen sind, Deutschland sich immer noch im Zustand der Spaltung befindet und keinen Friedensvertrag hat.“ Jedenfalls ist sicher, daß die sowjetische Führung zumindest in formaler Hinsicht nachholen wollte, was die drei Westmächte „schon“ 1951 mit der Beendigung des Kriegszustandes mit Deutschland getan hatten.
Darauf wiesen die USA, Großbritannien und Frankreich in ihrer Stellungnahme natürlich auch hin und befanden, daß der sowjetische Erlaß „praktisch so gut wie keine Bedeutung“ habe. Da er am Besatzungsregime der UdSSR in der DDR nichts ändere, solle mit ihm wohl nur naiven Westdeutschen eingeredet werden, daß die Sowjets ein immenses Zugeständnis gemacht hätten. Inhaltlich fast identisch waren Äußerungen von Politikern in der BRD. Die Bundesregierung äußerte durch einen Sprecher, der Erlaß erfolge „sehr spät“, während CDU-Bundeskanzler Konrad Adenauer zunächst nichts verlauten ließ. Erich Mende von der FDP traute der Sowjetunion nicht und sagte, der Erlaß sei hoffentlich keine „propagandistische Angelegenheit“.
Doch der letzte sowjetische Versuch, den „Westen“ zu spalten, mißlang: Am 5. Mai 1955 traten die Pariser Verträge von 1954 in Kraft, und die BRD trat der NATO bei. Reaktion des Ostens war schon am 14. Mai 1955 die Gründung des Warschauer Paktes. Die Fronten waren erneut verhärtet.
Über den Autor:
Dr. phil. Mario Kandil M.A., geb. 1965, studierte in Aachen Mittlere und Neuere Geschichte, Alte Geschichte und Politische Wissenschaft und promovierte in Hagen. Nach langjähriger Tätigkeit im universitären Bereich und in der Erwachsenenbildung heute freier Historiker und Publizist. Forschungsschwerpunkte: Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons I. sowie der Nationalstaaten, Weltkriege und Kalter Krieg.